Vor einem Jahr kannten Rocco Reitz und Brajan Gruda wohl nur ein paar Insider. Nun sind beide wichtige Mosaiksteinchen der deutschen EM-Mission. In einem ungewöhnlichen Rahmen zwar, aber doch aus guten Gründen.

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"Dem Nachwuchs eine zweite Chance", so kündigte der Deutsche Fußball-Bund den Start einer zusätzlichen Auswahlmannschaft an. Der Zeitpunkt dafür hätte besser kaum gewählt sein können, gut ein Jahr nach dem Desaster bei der Europameisterschaft 2000 und nur wenige Tage nach einem niederschmetternden 1:5 der A-Nationalmannschaft zu Hause gegen England.

Der deutsche Fußball lag im Herbst 2001 jedenfalls ziemlich am Boden, was für sich schon eine mittelschwere Katastrophe war. Im Hinblick auf eine Weltmeisterschaft ein paar Jahre später im eigenen Land wurde händeringend nach geeigneten Maßnahmen gefahndet, die einen Weg aus der Malaise versprachen.

Zum einen wurden also die Nachwuchsförderstrukturen im ganzen Land erneuert und endlich den veränderten Anforderungen angepasst. Und dazu für eine Reihe von Spielern, die zu alt waren für die U-21-Nationalmannschaft, aber eben auch noch nicht gut genug für die A-Nationalmannschaft, eine Art Zwischenstufe eingebaut. Das "Team 2006" sollte als Perspektivmannschaft im Schatten der Großen die Talente nach und nach an die Nationalmannschaft heranführen.

Vom Spätsommer 2002 bis in den Herbst 2005 absolvierte die neu gegründete Mannschaft insgesamt zehn Spiele - und vier seiner 73 eingesetzten Spieler schafften dann tatsächlich den Sprung in den WM-Kader 2006: Torhüter Timo Hildebrand, Arne Friedrich, Tim Borowski und Mike Hanke. Für den großen Rest war das "Team 2006" wie auch für den DFB eine flüchtige Episode.

Gruda und Reitz trainieren mit dem DFB-Team

In diesen Tagen unmittelbar vor dem Start in die Europameisterschaft 2024 gibt es kein deutsches Perspektivteam, längst sind die U-Nationalmannschaften des DFB so wichtig und medial präsent, dass selbst Testspiele der U15 live zu sehen sind, ganz zu schweigen von den K.o.-Spielen der B- und A-Junioren-Bundesliga im Kampf um die Meisterschaft oder den Pokal.

Der Jugendfußball hat einen ganz anderen Stellenwert als damals, die Spieler sind deutlich früher auf dem erforderlichen Niveau - was sich dann auch im Durchschnittsalter der Debütanten beim DFB widerspiegelt. Jamal Musiala und Florian Wirtz debütierten zuletzt mit 18 Jahren, Youssoufa Moukoko war sogar erst 17 Jahre jung. Im Kader für die Heim-EM sind Wirtz und Musiala zusammen mit dem Hoffenheimer Maximillian Beier mit jeweils 21 Jahren die Jüngsten - und bekommen nun zumindest vorübergehend noch etwas Unterstützung in ihrer Jugend-Fraktion.

Wenn die deutsche Nationalmannschaft am kommenden Sonntag im thüringischen Blankenhain in ihre Mission startet, werden auch Rocco Reitz (21) von Borussia Mönchengladbach und Brajan Gruda (19) vom FSV Mainz 05 mit dabei sein. Als eine Art Trainings- und Sparringspartner oder als Perspektivteam im Miniaturformat.

Nagelsmann erklärt die Maßnahme

Eigentlich sind beide als Eckpfeiler der deutschen U21 gesetzt, nun sollen Reitz und Gruda aber zusammen mit dem Großteil des EM-Kaders den Ernstfall proben. "Einige unserer Nationalspieler sind noch im DFB-Pokalfinale und im Endspiel in der Champions League im Einsatz und stoßen später zur Mannschaft. Um auch in der ersten Zeit der Vorbereitung optimal trainieren zu können, falls auch mal der eine oder andere angeschlagen ist, möchten wir gern zwei jungen Perspektivspielern die Möglichkeit geben, sich im Kreis der A-Mannschaft zu zeigen", erklärt Julian Nagelsmann laut DFB-Website die doch etwas ungewöhnliche Maßnahme.

Damit unterstrich der Bundestrainer allerdings nur noch einmal seinen Pragmatismus und auch den Mut, etwas andere Pfade zu beschreiten. Schon die Auswahl von gleich vier Torhütern im 27er-Kader hatte einige Fragen aufgeworfen, die Nagelsmann auf der Pressekonferenz der Kadernominierung aber inhaltlich absolut plausibel erklären konnte.

"Ich sehe es als wichtig an, im Training - gerade wenn du einen individuellen Block hast nach den Trainingseinheiten - einfach auch Torhüter im Tor zu haben, wenn Abschlüsse trainiert werden. Wir brauchen eine gute Anzahl, um die Belastung zu steuern. Jeder, der schon mal im Tor war, weiß, wenn da auf einmal 20 Spieler 400 Schüsse abfeuern, ist das relativ belastend. Und wir haben ja schon eine enge Taktung der Spiele, deswegen werden vier Torhüter mitgehen."

Nach einem ähnlichen Prinzip erfolgte deshalb nun die Auswahl von Reitz und Gruda - deren Engagement aber eher von kurzer Dauer sein dürfte: Sollten sich nicht gleich mehrere Spieler verletzen, endet das erste Abenteuer für das Duo bei der A-Nationalmannschaft spätestens mit der finalen Kadernominierung am 7. Juni.

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Reitz als Lichtblick einer schwachen Gladbacher Mannschaft

Für die EM kommt die A-Nationalmannschaft für Reitz und Gruda wohl noch eine Spur zu früh. Aber man sollte nicht zu verwundert sein, wenn beide in den ersten Länderspielen nach dem Großturnier des Sommers bald wieder im Kreis der A-Nationalmannschaft auftauchen.

Rocco Reitz hat sich in der jüngst abgelaufenen Saison in einer schwachen Gladbacher Mannschaft als einer der wenigen Lichtblicke nicht nur in der Bundesliga etabliert, sondern auch schon als Führungskraft erwiesen. Seit seiner Geburt ist Reitz Mitglied der Borussia, hat elf Jahre alle Nachwuchsmannschaften des Klubs durchlaufen und nach einer kurzen Leihe zu St. Truiden nun den Durchbruch in der Bundesliga geschafft.

Der Spieler mag nicht der Schnellste sein, Reitz kann ein Spiel aber herausragend gut lesen und ist im Kopf meist schon einen oder zwei Spielzüge voraus. Eine starke Technik und der nötige Biss runden ein Gesamtpaket ab, das ihn auch in Zukunft zu einer Säule des Gladbacher Wegs machen dürfte.

Bei Gruda muss der DFB schnell handeln

Noch etwas überraschender als Reitz spielte sich Brajan Gruda in den letzten Monaten quasi aus dem Nichts ins Rampenlicht. Dem einen oder anderen dürfte der Teenager spätestens im letzten Sommer aufgefallen sein, als Gruda einer der überragenden Spieler der Mainzer A-Jugend-Meistermannschaft war. Unter Bo Svensson schaffte Gruda dann auch schnell den Sprung zu den Profis.

Spätestens nach der Installation von Bo Henriksen als Trainer und der Rückkehr zum "Mainzer Fußball" wurde Gruda im Abstiegskampf der Nullfünfer zu einem wertvollen und wichtigen Mosaikstein. Mit teilweise überragenden Leistungen und einer besonders unbekümmerten Art spielte sich Gruda nicht nur in die Herzen der Mainzer Fans, sondern auch in die Notizbücher zahlreicher großer Klub im In- und Ausland.

Nur wenige Bundesligaprofis dürften demnächst umworbener sein als Gruda, der in wenigen Tagen erst 20 Jahre alt wird und sein volles Potenzial nun auf dem allerhöchsten Niveau mit der Nationalmannschaft zeigen darf.

Als Sohn des ehemaligen albanischen Nationalspielers Bujar Gruda besteht bei Brajan auch ein gewisser Handlungsdruck: Der DFB hat zuletzt einige große Talente seiner U-Mannschaften an andere Verbände "verloren". Womöglich soll die Einladung ins DFB-Camp für Gruda auch ein klares, frühzeitiges Signal sein. An den Spieler und an den albanischen Verband.

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