Wegen des Coronavirus ruht der Fußball derzeit. Das bietet die Gelegenheit, sich einmal mit dem Regelwerk zu beschäftigen. Unser Autor ist seit mehr als 20 Jahren in der Aus- und Fortbildung von Schiedsrichtern tätig. Während der Spielpause wird er einige Regeln näher beleuchten. Den Auftakt bildet ein Dauerthema der vergangenen Jahre: das Handspiel.
Entgegen anders lautenden Gerüchten gab es beim Handspiel jahrzehntelang eine eiserne Regel: Strafbar war es nur dann, wenn es absichtlich geschah. Wer dagegen ohne Vorsatz – also zufällig, versehentlich oder unverschuldet – den Ball mit der Hand oder dem Arm berührte, handelte nicht regelwidrig. Auch dann nicht, wenn er davon einen Vorteil hatte. Schließlich konnte er ja nichts dafür.
Das große Problem war nur: Wie sollte der Schiedsrichter diese Absicht erkennen? Schließlich kann er den Spielern ja nicht in die Köpfe schauen. Deshalb hatten die zuständigen Regelhüter vom International Football Association Board (Ifab) einige Anhaltspunkte festgelegt, die den Unparteiischen die Beurteilung von Handspielen erleichtern sollten.
So galt beispielsweise: Bewegt ein Spieler den Arm oder die Hand zum Ball, dann liegt Absicht vor. Fliegt umgekehrt der Ball gegen den Arm oder die Hand, dann nicht. Wer seinen Arm in einer unnatürlichen Position hielt und damit den Ball spielte, war ebenfalls zu bestrafen. Ein Handspiel, bei dem der Spieler aufgrund der geringen Distanz kaum Reaktionszeit hatte, sollte dagegen nicht geahndet werden.
Die neue Handspielregel ist dreimal so lang wie die alte
Dass es dabei einen recht großen Graubereich und viele Grenzfälle gab, lag in der Natur der Sache. Schließlich war es oft eine Ermessensfrage, ob eine Armhaltung unnatürlich oder die Distanz gering war. Im Laufe der Jahre wurden die Diskussionen über das Thema Handspiel immer erregter. Auch deshalb, weil die Schiedsrichter die Anweisung hatten, strenger zu pfeifen und es deshalb deutlich mehr Handelfmeter gab.
Die Spieler würden immer geschickter darin, ein Handspiel wie ein Versehen aussehen zu lassen, so lautete die – inoffizielle – Begründung für die Verschärfung der Linie. Die Debatten wurden aber auch deshalb hitziger, weil die zunehmende Zahl an Kameras in den Stadien mehr Perspektiven und Superzeitlupen lieferten. Das sorgte oft genug gerade nicht für mehr Klarheit, sondern eher für das Gegenteil, weil verschiedene Blickwinkel zu völlig unterschiedlichen Urteilen führen können.
Das Ifab versuchte sich schließlich an einem Befreiungsschlag und änderte die Handspielregel. Die neue, die seit dieser Saison gilt, ist etwa dreimal so umfangreich wie die alte. Denn die Regelhüter haben versucht, den Ermessensspielraum der Referees bei der Auslegung zu verringern, indem sie im Regeltext recht detailliert festgehalten haben, wann ein Handspiel strafbar ist, wann nicht – und wann nur manchmal.
Teilweise umständlich und verwirrend formuliert
Ein wesentlicher Unterschied zur alten Regel besteht darin, dass nun nicht mehr die Absicht das entscheidende Kriterium für die Strafbarkeit eines Handspiels ist, sondern vielmehr die Haltung des Armes. Denn diese lässt sich einfacher erkennen als der Vorsatz. Außerdem wurde festgelegt, dass kein Tor mehr zählen darf, bei dessen Erzielung oder Entstehung die Hand des Torschützen oder eines Teamkollegen im Spiel war – und sei es noch so unbeabsichtigt und unvermeidlich.
In diesem Punkt ist die Handspielregel ausnahmsweise schwarz-weiß, was es für die Unparteiischen vor allem in Spielen mit Video-Assistent leichter macht. Lässt sich ein Handspiel bei der Torerzielung oder der Vorbereitung eines Treffers feststellen, gilt das Tor nicht – ganz einfach. Das Ifab begründet diese Regeländerung damit, dass es der Fußball nicht akzeptiere, wenn einem Tor das Handspiel eines Angreifers vorausging.
Wesentlich komplizierter ist der Rest der Handspielregel – auch deshalb, weil sie teilweise verwirrend formuliert worden ist. So wird beispielsweise die Situation, in der der Ball direkt vom Körper eines Spielers an die Hand oder den Arm eines anderen, in der Nähe stehenden Spielers springt, gleich zweimal aufgeführt: einmal bei den strafbaren und einmal bei den in der Regel nicht strafbaren Handspielen.
Was jeweils zutrifft, hängt davon ab, ob sich der Arm des Spielers, dem der Ball an die Hand springt, in diesem Moment in einer natürlichen oder einer unnatürlichen Position befindet. Das versteht man allerdings erst nach mehrmaliger Lektüre. Auch die Ausnahmen von den jeweiligen Grundsätzen sind so umständlich beschrieben, dass es eine Weile dauert, ehe man sie verinnerlicht hat.
Wann ist ein Handspiel strafbar, wann nicht?
Kurz und etwas vereinfachend zusammengefasst, gelten beim Handspiel nun folgende Leitsätze:
- Strafbar ist ein Handspiel, wenn es klar absichtlich geschieht, die Körperfläche vergrößert wird oder es im Vorfeld einer Torerzielung passiert.
- Nicht strafbar ist ein Handspiel, wenn der Ball vorher abgefälscht wurde, der betreffende Spieler den Arm am Körper angelegt oder ihn benutzt hat, um einen Sturz abzufangen.
- Die Ausnahme: Berührt ein Spieler den Ball mit dem abgespreizten oder über Schulterhöhe gehaltenen Arm, wird er dafür nur dann nicht bestraft, wenn er den Ball unmittelbar zuvor absichtlich mit seinem Fuß, Kopf oder Körper gespielt und ihn sich dabei versehentlich selbst an den Arm oder die Hand befördert hat.
In Grenz- und Zweifelsfällen werden weitere, eher weiche Kriterien zur Bewertung herangezogen, etwa die Erwartbarkeit des Balles, die Vermeidbarkeit des Handspiels oder die Frage, inwieweit sich ein Spieler mit seinem ganzen Körper zum Ball orientiert und ein Handspiel womöglich zumindest in Kauf nimmt.
Die Neuregelung war nicht der große Wurf
Die Bundesliga-Schiedsrichter haben diese Neuregelung bislang gut umgesetzt. Fehler bei der Anwendung – wie etwa die zu Unrecht nicht geahndeten Handspiele des Münchners Ivan Perišić beim Spiel der Bayern auf Schalke und des Mainzers Moussa Niakhaté in der Partie gegen den 1. FC Köln – sind eher die Ausnahme, erfahren aber dennoch mehr Aufmerksamkeit, auch und besonders in den Medien.
Dessen ungeachtet muss man festhalten: Der große Wurf war die Handspielreform nicht. Zwar ist der Graubereich kleiner geworden, doch die Diskussionen haben kaum nachgelassen. Sie drehen sich nur mittlerweile weniger darum, ob ein Handspiel strafbar ist, als vielmehr darum, ob die Neuregelung mehr Gerechtigkeit gebracht hat. Wenn nicht alles täuscht, lautet der Tenor: nein.
Vielleicht liegt das auch daran, dass die Strafe sehr hart sein kann, wenn der Schiedsrichter ein Handspiel als ahndungswürdig bewertet. Konkret: Begeht es ein Verteidiger im eigenen Strafraum, dann ist unweigerlich ein Elfmeter die Konsequenz – auch dann, wenn keine Torchance vorlag und die Strafbarkeit des Handspiels zweifelhaft ist. Das muss zwangsläufig zu Protesten und Kritik führen.
Wie eine grundlegende Reform aussehen könnte
Womöglich sollte das Ifab hier ansetzen, also bei der Spielfortsetzung differenzieren. Denkbar wäre beispielsweise das folgende Modell, das allerdings einen massiven Eingriff ins Regelwerk voraussetzen würde, denn nach den derzeit gültigen Regeln wäre es nicht umzusetzen.
- Grundsätzlich gibt es nur noch einen indirekten Freistoß dort, wo das Handspiel stattgefunden hat, auch im gegnerischen Strafraum. Bei einem Handspiel im Torraum gibt es den indirekten Freistoß auf der Torraumlinie. Von dieser Regelung gibt es drei klar definierte Ausnahmen.
- Ausnahme 1: Ein Handspiel, mit dem eine offensichtliche Torchance verhindert wird, führt zu einem Strafstoß, selbst wenn es außerhalb des Strafraums geschieht. Denn in diesem Fall wäre ein indirekter Freistoß zu wenig, weil der Gegner dann eine Mauer stellen dürfte. Durch den Elfmeter wird die klare Torchance wiederhergestellt.
- Ausnahme 2: Bei einem Handspiel, durch das ein klares Tor verhindert wird – etwa durch einen Spieler auf der Torlinie –, gibt es ein "technisches Tor" wie im Eishockey. Denn ein Strafstoß könnte auch verschossen werden. Es wäre die konsequente Steigerung zum Strafstoß bei der Verhinderung einer offensichtlichen Torchance.
- Ausnahme 3: Wenn der Arm oder die Hand eines Abwehrspielers klar erkennbar gezielt vom Angreifer angeschossen wird, geht das Spiel weiter – so wie beim Handball, wenn der Ball absichtlich auf den Fuß eines Gegners geworfen wird.
Ein Graubereich würde dann immer noch existieren, aber er wäre deutlich kleiner. Die Berechenbarkeit wäre besser, die Entscheidung für die Schiedsrichter einfacher. Zu Härtefällen käme es seltener als jetzt – und damit auch zu weniger nervtötenden Debatten.
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