Ein halbes Jahrhundert immer wiederkehrender Demütigungen haben der englischen Nationalmannschaft offenbar endlich die Augen geöffnet. Die "Three Lions" verfolgen unter Roy Hodgson einen unspektakulären Kurs, der Trainer bastelt an einer Mannschaft der Namenlosen. Das Testspiel gegen den Erzrivalen Deutschland soll Aufschlüsse darüber geben, wie weit die Engländer mit ihren Reformen sind.
Es ist ein einziges großes Drama, welches die englische Nationalmannschaft in unzähligen Akten aufgeführt hat. Seit einem halben Jahrhundert geißelt der Wembley-Fluch das Mutterland des Fußballs, seit dem umstrittensten Tor der Geschichte scheint für die "Three Lions" nichts mehr so, wie es einmal war.
Geoff Hursts 3:2 im Finale von 1966 gegen Deutschland markiert den Höhe- und zugleich auch den Wendepunkt in der Historie der Nation. Mit dem Triumph bei der Heim-Weltmeisterschaft begann für England eine beispiellose Talfahrt mit Pleiten, Pech und ganz vielen Pannen sowie Turnierkatastrophen in Serie.
Im Zeitraffer sieht das bis heute so aus: 1968 bei der EM das Aus durch ein spätes Tor der Jugoslawen. 1970 bei der WM nach 2:0-Führung noch 3:2 gegen den Erzrivalen Deutschland verloren und damit ausgeschieden. 1972 im EM-Viertelfinale auf heimischem Boden in Wembley erstmals gegen eine deutsche Mannschaft verloren und ausgeschieden. Zur WM zwei Jahre später in der Qualifikation gescheitert, ebenso wie danach zur EM (1976) und dann wieder zur WM (1978).
Immer wieder Deutschland…
1980 immerhin die Qualifikation zur EM geschafft, dann aber gleich in der Vorrunde raus. 1982 in der Zwischenrunde ohne Torerfolg unter anderem an Deutschland gescheitert. 1984 in der EM-Qualifikation an Dänemark gescheitert. 1986 waren Maradonas Jahrhunderttor und die Hand Gottes zu viel. Zwei Jahre später bei der EM in der Gruppenphase alle drei Spiele verloren, unter anderem erstmals nach fast 40 Jahren wieder gegen Nachbar Irland.
1990 das Aus im Halbfinale im Elfmeterschießen - natürlich gegen Deutschland, zwei Jahre später scheidet England sieglos in der EM-Gruppenphase aus. 1994 scheitert England in der Qualifikation zur WM an der Fußball-Supermacht Norwegen, bei der Heim-EM heißt das Schicksal erneut Elfmeterschießen, erneut gegen Deutschland, erneut überlebt es England nicht.
1998: Aus im Achtelfinale im Elfmeterschießen gegen Argentinien. 2000: Aus nach der Gruppenphase. 2002: Aus im Achtelfinale. 2004 und 2006: Aus im Viertelfinale, jeweils gegen Portugal, einmal davon im Elfmeterschießen inklusive Beckham-Ausrutscher. 2008: Nicht für die EM qualifiziert. 2010: Aus im Achtelfinale gegen Deutschland, inklusive dem nicht gegeben Tor von Frank Lampard. 2012: Aus nach Elfmeterschießen gegen Italien. Und 2014: Die Schmach von Belo Horizonte, als England gegen Costa Rica in der Gruppephase scheitert.
Unbekümmerte, frische Gesichter
Das war gleichzeitig auch das Ende der "Golden Generation", Frank Lampard und Steven Gerrard erklärten vor zwei Jahren ihren Rücktritt. Übrig geblieben ist noch
Englands Nationalmannschaft hat sich endlich befreit vom Ballast der letzten Jahre. Die Mannschaft hat sich emanzipiert von den ganz großen Stars und dem Druck, unbedingt und jetzt endlich wieder einmal fantastisch abliefern zu müssen. Abgesehen vom mittlerweile altersschwach wirkenden Rooney beherbergt die Mannschaft, die am Samstagabend in Berlin auf die alte Hassliebe Deutschland treffen wird, keine großen Namen mehr.
Dafür aber eine ganze Reihe unbekümmerter, frischer Gesichter. Jamie Vardy zum Beispiel, Torjäger des Sensations-Spitzenreiters Leicester City und Shooting-Star der Premier-League-Saison. Oder Harry Kane, den Toptorjäger der Liga, der für die Tottenham Hotspur spielt. Oder dessen Teamkollegen Dele Alli (19) und Eric Dier (22). Dazu noch die Angreifer Danny Welbeck, Daniel Sturridge oder der derzeit verletzte Rahim Sterling.
"Das sieht auf dem Papier gut aus", sagt Trainer Hodgson. Der 68-Jährige ist dabei, die vielen Kritiker Lügen zu strafen, die ihm den Neuaufbau nach dem Desaster von Brasilien nicht zugetraut hatten. Die souveräne EM-Qualifikation aber hat das Blatt gewendet, mittlerweile genießt Hodgson mit seiner Pieps-Stimme fast schon so etwas wie Kultstatus auf der Insel.
Roy Hodgson lebt die neue Nüchternheit
Vor allen Dingen aber hat er den Fans die Sinne geschärft und ihnen die Realität vor Augen geführt. Er hat den Engländern erklärt, dass sie seit Dekaden schon nicht mehr zum inneren Zirkel der Fußball-Großmächte gehören, auch wenn die Erfolge der Vereinsmannschaften in der Champions League das immer so gerne suggerierten.
Wenn England seine Mannschaft zu Großturnieren schickte, dann drehte fast die gesamte Nation zu Hause regelmäßig völlig durch. Die Erwartungshaltung war jedes Mal traditionell grotesk überzogen, es folgte die größtmögliche Demütigung - und zwei Jahre später ging das Spielchen wieder von vorne los.
Also wählte Hodgson, der vor vier Jahren auf Fabio Capello folgte, dem teuersten Nationaltrainer aller Zeiten, eine andere, devotere Linie. Mit einer vergleichsweise unspektakulären, dafür aber homogenen und in sich ruhenden Mannschaft will er das Abenteuer EM in wenigen Wochen angehen.
Probleme in der Abwehr
Für viele Spieler wird es das erste große Turnier überhaupt sein. Da liegen auch die Gefahren der Unternehmung gleich auf der Hand: Niemand weiß, wie die Truppe unter Extrembelastungen reagiert. Ob und wie sie sich nach Wochen des Zusammenlebens finden kann. Ob sie - im Falle des Einzugs in die K.o.-Runde - schon gegen die Großen des Kontinents bestehen kann. Das Überangebot im Angriff deckt unfreiwillig auch die Qualitätsdefizite in der Abwehr auf. Hier dürfte Hodgsons größtes Problemfeld liegen.
Immerhin aber wird sich England beim Turnier in Frankreich die Scherereien mit den WAGs, den Wifes and Girlfriends, ersparen können. Der Boulevard wird von einer vergleichsweise spröden Truppe berichten können. Aber auch von glorreichen Siegen?
"Die Geschichte des englischen Fußballs ist die Geschichte einer enormen Souveränität, die durch Dummheit, Kurzsichtigkeit, Selbstzufriedenheit und endlose Selbsttäuschung verschwendet wird", schrieb Brian Glanville, der Chefkritiker des englischen Fußballs.
Das war in den Stunden nach dem eigentlichen Wendepunkt der englischen Fußballgeschichte. Wembley wurde damals entweiht, die Ungarn zerstörten den Mythos der englischen Unbesiegbarkeit an einem grauen Novembertag 1953, am Ende stand es 3:6. Seitdem versucht die englische Nationalmannschaft in der Moderne des Fußballs anzukommen.
Der WM-Triumph von '66 war lediglich ein Ausrutscher. Das ist mittlerweile auch dem Letzten klar.
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