Die Angst vor einem Coming-out ist unter Fußballern weiterhin riesig. Doch es tut sich etwas, möglicherweise geht gleich eine ganze Gruppe an die Öffentlichkeit. Wir haben mit Ex-Fußballer Marcus Urban gesprochen, dem Gründer der Kampagne "Sports Free".

Ein Interview

Marcus Urban ist ehrlich, er versucht erst gar nicht, das Ganze schönzureden. Denn ja, er hat seine Entscheidung, Anfang der 1990er-Jahre mit dem Fußball aufzuhören, hin und wieder bereut. Er vermied es Anfang anfangs sogar, in die Stadien zu gehen. "Ich habe mich da unten auf dem Platz gesehen", sagt der heute 52-Jährige im Gespräch mit unserer Redaktion.

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"Ich war frustriert, traurig, wütend, alles zusammen." Denn er galt in der früheren DDR als großes Talent, spielte in der Jugend-Nationalmannschaft und im Nachwuchs von Rot-Weiß Erfurt. Und hatte eine Profi-Karriere vor Augen.

Doch mit Anfang 20 war Schluss, weil er homosexuell ist. Er wollte sich nicht verstecken, hielt den Druck nicht mehr aus. "Das war ein ganz schöner Sack mit schweren Steinen. Ich habe den Fußball verlassen, um leben zu können", sagte er.

2007 hatte er sein Coming-out und hat inzwischen die Kampagne "Sports Free" ins Leben gerufen. Was es damit auf sich hat, warum sich Fußballer noch nicht an die Öffentlichkeit trauen, wie es hinter den Kulissen abläuft und ob Fußball und Gesellschaft bereit für Coming-outs wären – darüber spricht er im Interview.

Herr Urban, warum outet sich weiterhin kein aktiver Fußballer?

Marcus Urban: Aus Angst. Es ist in den letzten Jahrzehnten der Teufel an die Wand gemalt worden, was alles passiert, wie schlimm es wird, was für Repressalien entstehen, was für Mobbing. Das entsteht alles im Kopf. Gleichzeitig gibt es den Abgleich mit der Realität, weil dort Homophobie überall zu finden ist. Dadurch gibt es die Bestätigung für den Kopf, dass es genauso ist, wie man sich das vorstellt. Dass man sich weiter verstecken sollte, weil die Welt homophob ist. Von daher ist das psychologisch gesehen ein Teufelskreis.

Wie bereit ist die Gesellschaft denn für einen homosexuellen Fußballer?

Ich glaube nicht nur, dass die Gesellschaft bereit dafür ist, sondern dass sich der Großteil freut, authentische, selbstbestimmte Menschen zu sehen. Eine Minderheit, die homophob ist, wird es trotzdem geben. Wenn dich jemand blöd finden will, dann wird er das tun. Es lohnt nicht, weitere Energie darauf zu verschwenden.

Es ist ja alles im Moment noch Theorie. Doch glauben sie nicht, dass sich das alles nach einem Coming-out ganz schnell normalisieren würde?

Ja, ich glaube, dass es dann unspektakulärer verlaufen wird, als man sich das vorstellt. Bei homosexuellen Fußballern haben wir aber auch im Moment gar nicht die Möglichkeit einzugreifen, weil es offiziell keine homosexuellen Fußballer gibt. In den Stadien gibt es daher gar keine Sensibilität, denn wenn jemand homophob beleidigt, gibt es keinen Bezug, weil auf dem Platz niemand ist, der offiziell homosexuell ist. Und dadurch bleibt es immer in einer defensiven, passiven Situation. Das halte ich für ungünstig.

Warum ist die Angst bei den Fußballern so groß?

Die Spieler sind sehr verletzlich, weil sie sich seit vielen Jahren verstecken und sich eine Welt aufgebaut haben, durch die sie in eine defensive, vulnerable Situation gekommen sind. Da entsteht Paranoia, da entstehen Depressionen, einige Spieler sind am Ende, haben Suizidgedanken, sie treffen sich heimlich an Orten, wo niemand ist. Es laufen homophobe Gespräche ab hinter den Kulissen, die keiner mitbekommt. Das geht so nicht weiter. Das muss aufgelöst werden. So kann man die Leute nicht zurücklassen.

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Sie haben nur Kontakt zu schwulen Fußballern über Informanten. Wie muss ich mir das vorstellen?

Ich recherchiere seit 16 Jahren zu dem Thema, und seit 16 Jahren schweige ich. Die Informanten sind an mich herangetreten. Es sind inzwischen schon so viele Spieler, dass ich es mir aufschreiben musste, weil ich die Namen sonst alle vergesse. Es sind Nationalspieler, Bundesligaspieler. Das, was wir sehen zu den Themen Liebe, Partnerschaft und Leidenschaft, ist oft nicht die Realität.

Schein-Freundinnen, Schein-Ehen wurden organisiert, um es zu vertuschen oder "Verdächtigungen" auszuräumen. Es ist im Hintergrund mit unglaublichem Aufwand ganz viel organisiert worden und dafür floss auch viel Geld. Es sind offensichtlich weltweit die gleichen Abläufe, wo im Profisport "Fakes" gefragt sind, die von darauf spezialisierten Agenturen gemanagt oder im eigenen Freundes- und Bekanntenkreis geregelt werden.

"Die Dunkelziffer wird noch viel höher sein."

Wie viele Spieler haben bislang ein Coming-out gewagt?

Bis heute sind es 25 Spieler, in Deutschland zwei Coming-outs, in West-, Mittel und Nordeuropa, eines in Osteuropa, in Nord- und Südamerika, Australien und in Südafrika. Die Coming-outs, die es im Profifußball gab, haben bislang nur in demokratischen Ländern stattgefunden. Diese Selbstbestimmung, die sich Menschen wünschen, ist essenziell, und das seit Jahrhunderten. Es ist nur möglich in Ländern, die den Menschen ihre Freiheit ermöglichen.

Es gibt die These, dass in jeder Elf ein homosexueller Fußballer ist. Kommt das Ihrer Erfahrung nach hin?

Das kommt nicht ganz hin. Es sind oft mehr. Es gab immer die These, dass es weniger sein müssten als in anderen Bereichen der Gesellschaft, weil sie zum Beispiel vorher in den Nachwuchsleistungszentren aufgrund des Mobbings schon rausfallen. Aber auch da verstecken sie sich schon. Ich habe nicht alle Namen und das ist sicher auch nur die Spitze des Eisbergs. Es sind nicht alle Spieler miteinander vernetzt, nicht alle queeren Spieler sind in Gruppen zusammen. Manche machen nur ihr eigenes Ding und manche werden gar nicht in Erscheinung treten. Das heißt, die Dunkelziffer wird noch viel höher sein.

Warum läuft das Coming-out bei den Frauen so viel selbstverständlicher ab?

Sexualität wird bei Frauen nicht so als Statussymbol gehandelt. Das ist nahezu ein reines Männerthema. Und dann geht es zum Beispiel in den Dokus wie vor der Fußball-WM der Frauen nicht mehr ums Coming-out, sondern wie die Frauen in Paarbeziehungen miteinander leben. Bei den Männern ist das noch nicht der Fall. Da wird so getan, als seien alle heterosexuell, aus Angst, den Status, den Ruf, den Ruhm und am Ende Job und Geld zu verlieren.

Warum ist das so ein Problem, wenn da ein Mann neben dem Spieler sitzen würde?

Es ist die Aufgabe, das aufzulösen, den Männerfußball bei dem Thema ins Jahr 2023 zu bringen. Zu dem Thema Liebe, Leidenschaft und Partnerschaft ist er auf dem Stand wie vor 70 Jahren, um 1950 also. Heißt: Heimlich treffen, Paranoia, Angst. Man tut also so, als sei es strafbar, wie in den 1950er Jahren. Ich lebe in einer Parallelwelt. Es gibt wohl tatsächlich schon schwule Paare in der Bundesliga. Es wäre also auch die Realität bei den Männern, genauso wie sie es bei den Frauen ist. Und das zeigt, wie krass dieses Versteckspiel und wie schräg alles ist.

Die Vereine spielen ja auch eine nicht unerhebliche Rolle. Wie sehen sie diese Rolle?

Das ist besser geworden. Ich erinnere mich an Treffen mit bekannten Bundesliga-Trainern, die mir nach Veranstaltungen unter vorgehaltener Hand sagten: 'Dann bist du nicht für diese Fußballwelt geschaffen, wenn du es nicht aushältst, dich als Schwuler zu verstecken.' Vor zwölf, 13 Jahren fragte mich der Geschäftsführer eines Top-Bundesligavereins am Telefon: 'Nennen Sie mir einen Grund, warum ich Diversity-Arbeit im Verein machen soll.' Heute höre ich in Gesprächen mit Vereinen, dass man voll zu dem Thema stehe, dass man unterstütze. Und das merke ich auch.

Und die Mannschaftskollegen? Ist es in der Kabine auch offener geworden?

Es ist offener geworden, das hat sich über die Jahrzehnte verändert. Früher gab es im Grunde eine schweigende Vereinbarung, dass alle homophob sein dürfen. Und dadurch waren fast alle dann auch feindlich eingestellt, homophob, sexistisch. Auch an anderen Stellen in den Vereinen ist jetzt eine neue Generation an Mitarbeitenden da.

"Ich wollte ein Projekt, das Selbstbestimmung in den Vordergrund stellt."

Die betreffenden Fußballer haben auch Angst, dass Sponsoren abspringen könnten. Wie real sehen Sie diese Gefahr?

Ich gehe davon aus, dass von Sponsoren großes Interesse besteht, zu sponsern. Denn ein authentischeres Alleinstellungsmerkmal, ein besseres Symbol für Freiheit, für Selbstbestimmung gibt es wohl nicht, als mutig und Vorreiter zu sein bei einem über Jahrhunderte unterdrückten Thema. Von daher müssten die Spieler noch interessanter für Sponsoren werden.

Warum schließt sich denn keine Gruppe zusammen? Als Gruppe ist man stark, das wären mehrere "Angriffsflächen", wodurch man negative Reaktionen vielleicht auch abfedern kann?

Es gab Ideen und auch Versuche, sich als Gruppe zu outen. Viele sind in Gruppen zusammengeschlossen und da gibt es auch kleinere Gruppen, die selbstbewusster sind. Aber die Versuche brachen immer wieder zusammen.

Warum?

Am Ende fehlten die Konsequenz und vielleicht auch eine Orientierung. Ein Projekt, in dem es ein Setting gibt, in dem intensiver darüber gesprochen wird, wie man es organisieren kann.

Sie haben die Kampagne "Sports Free" ins Leben gerufen, mit der sie ein Coming-out vorbereiten wollen. Wie kam es dazu?

Ich wollte ein Projekt, das Selbstbestimmung in den Vordergrund stellt – nicht nur das Coming-out alleine thematisiert, in dem sich die Spieler gesehen und verstanden fühlen und wir auf dem Weg zur Freiheit konkret unterstützen können. Es ist einfacher, wenn man nicht alleine ist. Zum Beispiel, indem wir die 25 bereits geouteten Profifußballer zeigen, warum sie sich geoutet haben, wie das passiert ist, welchen Rahmen sie gewählt haben. Und was mit ihnen danach passiert ist, welche Vor- und Nachteile es hatte, was sie dazu sagen. Um den Spielern Mut zu machen. Wir bauen ihnen eine Plattform, auf der sie das individuell gestalten können, aber am Ende schon als Gruppe, weil es dann einfacher ist und sich die Aufmerksamkeit verteilt. Wir begleiten alles seit 2022 filmisch. Wir haben schon den fünften Drehtag hinter uns und werden auch zeigen, was nach dem Coming-out kam, um sie auch danach nicht alleine zu lassen.

"Profifußballer sind Menschen wie alle anderen auch."

Wie optimistisch sind Sie auch, dass das dann tatsächlich zu einem entscheidenden Schritt führen kann? Wie stark ist die Kraft von Freiheit und Selbstbestimmung und Glücklichsein?

Das sind Triebkräfte der gesamten Menschheitsgeschichte. Profifußballer sind Menschen wie alle anderen auch, die frei und selbstbestimmt leben möchten. Und deswegen wird sich das seinen Weg bahnen. Ich organisiere es, weil es mein Leben betrifft, weil es die logische Konsequenz meines Lebenslaufes ist. Einer muss immer vorangehen. Ich habe meinen Auftrag erkannt und verstanden.

Welche Hindernisse gibt es neben der Angst der Fußballer?

Menschen, die verdächtigt werden, das Ganze zurückzuhalten. Manche Personen, die an den Spielern verdienen, sind daran interessiert, dass alles so bleibt, wie es ist. Das ist eine ungünstige Gemengelage, und das kann ich auch nicht unterstützen. Die Kriterien Geld und Ruhm dürfen nicht in einem schlechten Austausch stehen, dass sich jemand selbst aufgeben muss, unfrei und unselbstständig sein muss. Das ist unfair, unnötig und ungerecht. Deswegen gehört das aufgelöst. Es sind nicht alle so, aber viele Spieler werden zum Teil nicht in ihrem eigenen Sinne beraten. Einige haben Leute um sich herum, die "nur" ihr Geld und Ruhm wollen. Und die nach dem Motto beraten: 'Mach das nicht, willst du die Schwuchtel sein im Verein?' Oder: 'Mach, was du willst, aber mache es privat. Ich rate dir davon ab, dich zu zeigen.'"

Gibt es denn auch positives Feedback und Unterstützung?

Borussia Dortmund ist großartig, der BVB hat von einem Tag auf den anderen 25.000 Euro gespendet. Der FC St. Pauli spendet ebenfalls, ebenso wie der VfB Stuttgart. Und mit anderen Bundesliga-Vereinen spreche ich aktuell. Es wäre wichtig, wenn sich die Vereine beteiligen, genauso wie Spieler und Sponsoren. Damit sie die Angst der schwulen Spieler widerlegen.

"Eine Art Hexenjagd beginnt"

Und wie ist die Rückmeldung der Spieler?

Sie haben Angst bekommen durch die Presseberichte, dass alles auffliegen könnte, dass sie von der Presse verfolgt werden. Dass ein Spießrutenlauf, eine Art Hexenjagd beginnt. Das klingt alles sehr krass. Und wir mussten sie ein bisschen beruhigen, dass nichts passiert, dass alles so bleibt, wie es ist. Von mir haben Sie sowieso nichts zu befürchten. Ich schweige seit 16 Jahren.

Wie ist Ihr Gefühl, wie aktuell die Stimmung in der Gruppe ist, was ein Coming-out angeht?

Sie wollen es gerne. Es ist ein Annäherungsprozess, um mit sich selbst ins Reine zu kommen, eine Begegnung mit den eigenen Ängsten und Befürchtungen, an denen sie wachsen können und werden, um dann diesen letzten Schritt in die Freiheit zu machen. Und dabei helfe ich Ihnen.

Wann ist der Tag X?

Zum 17. Mai gibt es die erste Möglichkeit, das erste Angebot. Und wer sich das erstmal anschauen will, kann das auch später machen. Wenn es passiert, dann passiert es. Und wenn nicht, dann dauert es eben noch ein bisschen länger. Die Spieler haben die Möglichkeit, zu jedem 17. eines Monats ihren Weg zu gehen.

Über den Gesprächspartner

  • Marcus Urban spielte in der früheren DDR in der Jugend-Nationalmannschaft und im Nachwuchs von Rot-Weiß Erfurt. Mit Anfang 20 beendete er seine Karriere und hatte 2007 sein Coming-out. Nun will er anderen schwulen Fußballern bei diesem Schritt helfen. Dafür gründete er die Kampagne "Sports Free", für die man bei "GoFundMe" spenden kann.
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