An Jürgen Klinsmann scheiden sich immer noch die Geister. Dabei war und ist der nun 60-Jährige einer der wichtigsten Botschafter der Republik und ein Reformer, wie es nur ganz wenige im deutschen Fußball gab.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Stefan Rommel sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Das erste der vielen Bücher über Jürgen Klinsmann ist im Winter 1988 erschienen. Verfasst hat das Werk mit dem Titel "Der Weg nach oben" der Journalist Roland Eitel, der wenige Jahre später praktischerweise Klinsmanns Berater wurde. Der Spieler war damals 23 Jahre jung, ein Emporkömmling der Bundesliga, aber eben auch noch eine allenfalls nationale Erscheinung.

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Als Spieler des VfB Stuttgart schaffte es Klinsmann auf die Titelseiten der Boulevardblätter und in die "Bravo", außerhalb der Bundesliga war der Angreifer aber noch ein recht unbeschriebenes Blatt. Wenige Wochen vor Veröffentlichung des Buchs hatte Klinsmann erst sein Debüt für die Nationalmannschaft gegeben, noch kein großes Turnier gespielt.

Elf Jahre und 107 Länderspiele später trat Klinsi als Welt- und Europameister, als Ehrenspielführer und einer der besten Angreifer des Landes von der internationalen Bühne ab, spielte bis dahin auf Vereinsebene unter anderem für Inter Mailand, die AS Monaco, Tottenham Hotspur und den FC Bayern, wurde Deutscher Meister und Uefa-Cup-Sieger, Deutschlands Fußballer des Jahres, Welttorjäger.

"Der Weg nach oben" war ein Ausblick und ein Versprechen, übererfüllt von einem der besten Spieler der Geschichte. Und einem, der gerne auch angeeckt ist mit seiner Art und seinem Ehrgeiz.

"Unglaublich misstrauischer Mensch."

Uli Hoeneß über Klinsmann

Den "Sunnyboy des deutschen Fußballs" haben sie ihn genannt und Klinsmann hat dieses Image nur zu gerne gepflegt. Symbolträchtig fuhr er mit dem VW Käfer vor, wenn die Mitspieler ihre Protzschleudern zur Schau stellten. Klinsmann versprühte in den bleiernen Jahren des deutschen Fußballs in den 80er- und 90er-Jahren immer auch eine nonchalante Leichtigkeit, zeigte sich neugierig und weltoffen und deutlich weniger hemdsärmelig als andere prägende Figuren jener Jahre. Und er brach schon früh mit Konventionen.

Er leistete sich einen Medienberater, ging mit 24 Jahren schon in die damals beste Liga der Welt, die Serie A. Und war schon immer ein gewiefter Taktiker und knallharter Verhandlungspartner, wenn es um die Ausgestaltung seiner Verträge ging.

Als stur und eigensinnig stuften ihn seine Kritiker ein, Uli Hoeneß wollte in einem "Stern"-Interview einen "unglaublich misstrauischen Menschen" erkennt haben - der gerne Leute um sich habe, die von ihm abhängig sind. Überhaupt Hoeneß: Mit dem Allmächtigen des deutschen Fußballs legte er sich ebenso immer wieder an wie mit den Allmächtigen von der "Bild"-Zeitung.

Der Botschafter Klinsmann

In Italien mit seinen Sport-Tageszeitungen und unzähligen Radioformaten über den Calcio holte sich Klinsmann eine gewisse Robustheit im Umgang mit den Medien und der Öffentlichkeit. Als er sich im Sommer 1994 für einen Wechsel vom beschaulichen Monaco nach London zu den Spurs entschied, sollte das noch von entscheidender Bedeutung sein.

Klinsmann eilte der Ruf des "diver" voraus, als jemand, der im gegnerischen Strafraum allzu leicht zu Boden geht. Die englischen Boulevardblätter überschlugen sich förmlich in ihrer Ablehnung für den Deutschen. Bis dieser im Handstreich die Geschichten auf seine Seite zog.

Im ersten Spiel der Spurs in Sheffield köpfte Klinsmann eine Flanke von Darren Anderton ins Tor und rannte - gefolgt von den Teamkollegen - in Richtung Außenlinie. Hechtete mit Verve auf den Rasen und geboren war der "echte" Diver. Klinsmann eroberte die Fans auf der Insel damit im Sturm, weil er etwas machte, das den Deutschen so nie zugetraut wurde: Selbstironisch und mit einem Augenzwinkern den Kritikern den Wind aus den Segeln zu nehmen.

Es war der Auftakt einer beschwingten Zeit in London, in der Klinsmann für die englisch-deutsche Verständigung mehr erreichte als Heerscharen von Politikern davor und danach. Da wurde ihm fast auch verziehen, dass er als Kapitän eine deutsche Nationalmannschaft in Wembley zum EM-Titel führte. 30 Jahre nach dem WM-Finale 1966 und dem legendären (Nicht-)Tor für die deutsche Fußballseele so etwas wie eine verspätete Revanche.

Der Buhmann erschafft das Sommermärchen

Später als Trainer hat es bei Klinsmann nicht mehr zu höchsten Würden gereicht. Und doch sind seine Verdienste als Übungsleiter und Reformer mindestens so hoch einzuschätzen wie jene als Aktiver. In einer der dunkelsten Stunden des deutschen Fußballs zauberte eine Trainerfindungskommission mit Gerhard Mayer-Vorfelder an der Spitze nach Rudi Völlers Rücktritt als Teamchef plötzlich Klinsmann aus dem Hut.

Eine Lösung mit einem völlig unerfahrenen Chef, wohn- und sesshaft in Huntington Beach, Kalifornien. Keine zwei Jahre vor der Heim-WM in Deutschland. Keinen Stein wolle er auf dem anderen lassen, kündigte Klinsmann an. Und er hielt Wort.

Es war ein Kulturschock für das Land der Libero und Wadenbeißer, als Klinsmann mit einer ganzen Mannschaft an Spezialisten und Einflüsterern aufwartete. Der Neue etablierte gegen alle Skepsis eine neue Denkweise im deutschen Fußball, Klinsmann selbst würde wohl von einem "frischen Mindset" sprechen.

Die Debatten um seine eigenwilligen Methoden und seine spärlich dosierten Aufenthalte in Deutschland kumulierten dann in einer Testspielniederlage gegen Italien, rund drei Monate vor Turnierbeginn. Das Land war in Aufruhr, Klinsmann der Buhmann und über eine Abberufung als Delegationsleiter spekulierte sogar die ansonsten eher gemäßigte "Süddeutsche Zeitung".

Dann kam die Weltmeisterschaft, Lahms Eröffnung, Odonkors Antritt, Neuvilles Tor, Poldi und Schweini, Lehmanns Zettel gegen Argentinien, der Heldentod gegen Italien, das furiose Finale gegen Portugal. Das deutsche Sommermärchen war Franz Beckenbauers Erfindung – in die Tat umgesetzt hat es Jürgen Klinsmann mit seiner Mannschaft.

Neue Strukturen beim DFB und den Bayern

Die Strukturen im Verband waren jetzt aufgebrochen, der Deutsche Fußball-Bund endlich fit für die Zukunft. Es waren auch Klinsmanns Ideen, die letztlich zum WM-Titel 2014 geführt haben. Und die Jahre davor sogar Uli Hoeneß noch einmal dazu bewogen, sein "nie wieder" in Bezug auf Klinsmann zu überdenken.

Die Bayern darbten im Winter 2008, waren nicht Meister und nicht in der Champions League dabei. Es musste sich grundlegend etwas ändern beim Rekordmeister. Hoeneß hatte Jürgen Klopp, den Trainer des FSV Mainz 05, im Kopf. Karl-Heinz Rummenigge tendierte zu Klinsmann - und setzte sich durch.

Als Cheftrainer scheiterte der vermeintliche Heilsbringer schon nach zehn Monaten, als Reformer im Klub haben einige seiner Konzepte und vor allen Dingen die Infrastruktur an der Säbener Straße aber bis heute überlebt. "Seine Erfahrungen aus Amerika herüber zu transportieren: Davon hat nicht nur der FC Bayern profitiert, sondern auch viele andere", sagt Bastian Schweinsteiger im Podcast "Generation Wembley".

Klinsmann habe die "Fazilitäten", wie Hoeneß es im selben Podcast formuliert, auf Vordermann gebracht, "state of the art", zu einem der modernsten Trainingsgelände Europas geformt. Und ein neues Arbeitsethos eingeführt: Weg vom Teilzeit-Profi mit zu viel Freizeit und hin zum Acht-Stunden-Arbeitstag.

Das ist Klinsmanns Vermächtnis beim größten und wichtigsten Klub. Und irgendwie auch im Rest des Landes.

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