Der Aufschrei war enorm und hallt seitdem in den Ohren von rund 200 Millionen Brasilianern. Es war ein 2:2 gegen Italien, das eine Welle der Entrüstung und bei einigen sogar schon erste Spuren von Resignation hervorrief.
"Was ist nur mit der Selecao los? Warum können wir gegen die Großen Europas nicht mehr gewinnen?", fragte die Sportzeitung "Lance". Darin schwingt neben einer großen Portion Wut auch die Verklärung der Realität mit.
Vielmehr müsste die Frage nämlich lauten: "Gegen wen können wir überhaupt noch gewinnen?" In diesem Kalenderjahr war Brasilien in einer von fünf Partien siegreich, es war ein 4:0 gegen Bolivien - eine Mannschaft, die in der WM-Qualifikation mit neun Punkten aus elf Spielen Vorletzter ist und in der Weltrangliste Platz 58 einnimmt, knapp vor Haiti.
"Von denjenigen, die kopiert wurden, sind wir zu denjenigen geworden, die kopieren. Wir sind in der Zeit und im Raum stehengeblieben, leben von einer glorreichen Vergangenheit, die heute nicht mehr existiert", sucht das Blatt nach einer plausiblen Erklärung. "Wir waren mal etwas Besonderes, heute sind wir auf gleicher Stufe mit den anderen oder gar schlechter."
Als Beleg dient die wenig schmeichelhafte Statistik, nach der es seit dem 1:0 im November 2009 gegen England unter anderem sechs Niederlagen gegen frühere Weltmeister gab. Zweimal gegen Argentinien (0:1 und 3:4), das 2:3 gegen Deutschland im Sommer 2011, gegen Frankreich (0:1) und zuletzt gegen England (1:2).
Immerhin erreichte die Mannschaft vor wenigen Wochen ein 2:2 gegen Italien. Streng genommen ein kleiner Schritt nach vorne. In der Wahrnehmung nicht nur der großen Sportzeitungen aber die nächste Demütigung.
Der "ewige Felipao" soll es richten
Als gar nichts mehr ging, erinnerte sich Jose Maria Marin in seiner Not an Luiz Felipe Scolari, den "ewigen Felipao". Marin steht dem brasilianischen Verband Confederacao Brasileira de Futebol (CBF) vor, er dürfte damit den zweitwichtigsten Job des Landes inne haben. Der wichtigste ist der des Nationaltrainers.
Mano Menezes wurde die Aufgabe zuteil, innerhalb von vier Jahren eine Mannschaft zu formen, die bei der Weltmeisterschaft im eigenen Land den Titel holt. Punkt. Alles andere als der "Hexacampeao", der sechste WM-Titel, ist reinste Makulatur. Menezes baute und bastelte fieberhaft, testete über 70 Spieler, um den radikalen Umbruch zu vollziehen.
Die verpasste Goldmedaille bei den Olympischen Spiele von London mit der U 23, die nach der Komplett-Verjüngung der A-Nationalmannschaft dieser quasi gleich kam, bedeutete im Prinzip schon das Aus für Menezes. Die Kritik entlud sich wie eine Lawine über dem Nationalcoach, Schmähungen wie die von Ex-Nationalheld Romario waren da noch vergleichsweise glimpflich, als er Menezes "die Fähigkeit, die Intelligenz und den Anstand" absprach.
Da half auch die ordentliche Statistik (27 Siege, sechs Unentschieden, sieben Niederlagen) und der Sieg gegen Argentinien im fast bedeutungslosen "Superclasico de las Americas" gegen Erzfeind Argentinien nichts mehr, im November letzten Jahres zogen die hohen Herren auch auf Druck der Öffentlichkeit die Notbremse.
Und installierten Luiz Felipe Scolari. Zehn Jahre, nachdem der mit der Selecao in Japan und Südkorea den letzten WM-Titel eingefahren hatte. Die Milchmädchenrechnung sah vor, dass alleine Scolaris Aura dem Team neue Kraft verleihen möge. Tatsächlich zeichnet sich aber immer noch keine schlagkräftige Truppe ab, es gibt kein klares Spielsystem und es wird kaum noch eine Partie gewonnen.
Das 2:2 gegen Chile vor wenigen Tagen war eine Art Bankrotterklärung für alle Beteiligten. Der Gegner war keiner der Großen Europas, eher ein Mittelprächtiger des eigenen Kontinents. Was die Gemengelage nicht gerade besser macht.
Die Mannschaft, zusammengesetzt aus Spielern der heimischen Liga, kann derzeit das "Jogo Bonito", den typisch brasilianischen Fußballzauber nicht liefern und versagt auch ergebnistechnisch. Die Fans im schicken neuen Mineirao-Stadion verfluchten ihr Team und verabschiedeten es mit einem gellenden Pfeifkonzert. Luiz Felipe Scolari baut dagegen auf klassische Durchhalteparolen.
"Wir müssen in der jetzigen Phase auch an Vertrauen in Brasilien gewinnen. Ich kann mich noch gut an 2002 erinnern, als wir abreisten und wir im eigenen Land keinen Pfifferling wert waren. Man glaubte nicht an die Selecao."
Sport hinkt hinter der Wirtschaft zurück
Der ohnehin schon ramponierte Ruf der einstigen Vorzeigemannschaft leidet noch mehr, da sich im Land abgesehen vom undurchsichtigen Treiben bei der Selecao eine unglaubliche Aufbruchsstimmung entfacht.
Früher war es so, dass die Nationalmannschaft das Aushängeschild des Landes war, neben der Copacabana und dem Rohstoff Zucker, an dem sich die ganze Welt labte. Seit einigen Jahren aber boomt Brasilien nicht mehr auf dem Fußballfeld - sondern in verschiedensten Industrie- und Dienstleistungsbranchen.
Vor den Küsten wird Rohöl in rauen Mengen zu Tage gefördert, die Zahl der Sojafelder hat sich beinahe verdoppelt. So viel Kaffee, Mais oder Rindfleisch wie noch nie zuvor wird exportiert.
Die Wirtschaft erlebt seit den sportpolitischen Entscheidungen für die Weltmeisterschaft (und damit zwangsläufig auch den Confed Cup) und die Olympischen Spiele 2016 in Rio de Janeiro einen ungeahnten Aufschwung. 2002, im Jahr des letzten WM-Gewinns, stand Brasilien vor dem Staatsbankrott. Inzwischen hat sich der größte Staat Südamerikas zu einer Weltmacht entwickelt.
Und was macht die andere einstige Weltmacht, die Selecao? Hinkt der Spitze gefühlt meilenweit hinterher. Die übrigen Großen spielen in einer anderen Liga. Brasilien hat es momentan eine Etage tiefer verschlagen. An den WM-Titel glauben derzeit nur kühne Optimisten.
Und es gibt sogar kritische Stimmen, die einen Niedergang nach Plan erkennen wollen. Plakativ wird der am Beispiel des hoffnungsvollsten Talents des Landes, dem Offensivzauberer Neymar, und erinnert in der Tat ein wenig an die schwarzen Tage aus dem Jahr 2006.
Damals reiste die Selecao wenige Wochen vor der Weltmeisterschaft in Deutschland als Gauklertruppe verkleidet durch die Schweiz, absolvierte ihre Testspiele im Land der Eidgenossen, hielt die Trainingseinheiten vor vollbesetzten Rängen ab und kassierte dafür ein paar Franken Eintritt. Da war jede Menge Zirkus - aber keine gezielte Vorbereitung.
Ein Jungstar als Hoffnungsträger
Neymar da Silva Santos Junior, 22, wandelt derzeit auf einem ganz ähnlichen Weg. Zur Zeit - und bis zur Endrunde in 13 Monaten wird es vermutlich noch viel schlimmer werden - ist er omnipräsent in den Medien.
Seine Berater und sein Vater quetschen jetzt schon alles raus, was das schmächtige Kerlchen so hergibt. Neymar ist ihr persönlicher Goldesel, mit dem sich hohe zweistellige Millionenbeträge im Jahr verdienen lassen. Auf Fußball kann sich ein 22-Jähriger da schlecht konzentrieren. Dabei ist er der einzige veritable Hoffnungsträger einer kaum funktionierenden Mannschaft.
"Es fehlt uns an Selbstvertrauen. Das gelbe Trikot erschreckt niemanden mehr", erkennt die Zeitung "Placar". "Der brasilianische Spieler fühlt sich nicht mehr allmächtig, wenn er die Uniform überzieht. Es scheint sogar, dass wir so was wie Schweden, Rumänien oder Kolumbien darstellen, die auch in Gelb spielen."
Der Confed Cup wird mehr als für jeden WM-Gastgeber zuvor für Brasilien zur Götterdämmerung. Ein Versagen beim Testlauf für die Titelkämpfe in einem Jahr könnte die ohnehin schon angespannte Lage in glatte Hysterie verwandeln.
Am 8. Juni nächsten Jahres wird der brasilianische Verband 100 Jahre alt. Vier Tage später steigt das Eröffnungsspiel der WM, mit Gastgeber Brasilien auf dem Platz. Derzeit gibt es viele Brasilianer, die sich auf den Stichtag nicht so recht freuen mögen. Es könnte die traurigste Geburtstagsfeier seit langem werden.
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