Belgien? England? Kolumbien? Kroatien! Spätestens seit dem glanzvollen Sieg über Argentinien dürfte klar sein, dass die Kroaten mehr haben als "nur" das Zeug zum Geheimfavoriten. Die Mannschaft bringt ein starkes Gesamtpaket mit und hat einen Trainer, der die richtigen Maßnahmen ergreift.
Am Anfang der zweiten WM-Woche ist es vielleicht ein bisschen spät, sich beim obligatorischen Fachsimpeln auf einen Geheimfavoriten bei dieser WM festzulegen.
Belgien hat diese Rolle seit vier Jahren inne. Beim Endturnier in Brasilien und zwei Jahre später bei der EM in Frankreich waren die Roten Teufel jenes Team, das aus dem Windschatten der Granden heraus am Ende als erstes über die Ziellinie fuhr.
England war vor dem aktuellen Turnier ein geeigneter Kandidat, vielleicht eines der afrikanischen Teams, oder - ganz hipp - Kolumbien. Mit Kroatien hat wohl niemand so richtig gerechnet.
Und jetzt: Sechs Punkte aus zwei Spielen, ein Torverhältnis von 5:0 und nach dem glanzvollen 3:0 über Argentinien auch die Gewissheit, mit den ganz großen Mannschaften nicht nur mithalten zu können, sondern teils sogar besser zu sein.
Natürlich mag Argentinien in seiner derzeitigen Verfassung nicht die oberste Güte der Weltklasse-Teams verkörpern, aber allein die schiere Ansammlung an individuell herausragenden Akteuren samt Leo Messi macht die Mannschaft gefährlich genug.
Gegen Kroatien war davon nichts zu sehen, was einerseits mit einem falschen argentinischen Matchplan zu tun hatte und auch teilweise hanebüchenen Fehlern der Albiceleste. Andererseits lag das an der imposanten Stärke der Kroaten, die sowohl spieltaktisch als auch individuell und mental voll auf der Höhe scheinen.
Der Trainer ist der Schlüssel
Das hat in erster Linie mit dem Trainer zu tun. In Kroatien war die Skepsis groß, als der mehr oder weniger unbekannte Zlatko Dalic die in Gefahr geratene Qualifikation zu Ende coachen und das Team nach Russland führen sollte.
Dalic hatte zuvor bei keinem namhaften Klub gearbeitet, galt als Außenseiter auf den Posten und bekam ihn am Ende doch. Die Kroaten marschierten noch auf Rang zwei in ihrer Gruppe und setzten sich in den Playoffs souverän gegen Griechenland durch.
Trotzdem blieben Zweifel - auch wegen der schwankenden Leistungen in den Testspielen und weil die Stars der Mannschaft nicht so richtig eingebunden wirkten in ein immer noch fragiles Gesamtkonstrukt.
Aber Dalic hat es offenbar geschafft, die knapp bemessene Zeit der Vorbereitung optimal zu nutzen und eine Mannschaft zu basteln, in der jeder Einzelne seine Stärken wunderbar zur Entfaltung bringen kann, ohne dabei das übergeordnete Ziel aus den Augen zu verlieren.
Dalic zeigte in Krisensituation Haltung
Vor einigen Tagen krachte es intern so richtig, als Ersatz-Mittelstürmer Nikola Kalinic zum wiederholten Mal seine Einwechslung verweigerte. Es lief auf einen Machtkampf zwischen dem Milan-Star und Dalic hinaus - und der Trainer reagierte nicht sanft oder nachgiebig, sondern knallhart.
Kalinic wurde mit sofortiger Wirkung aus dem Kader geworfen und nach Hause geschickt. Der Mannschaftsrat begrüßte diese Entscheidung und Dalic bekam damit noch eine Spur mehr Kontur.
Der Auftritt gegen Argentinien und wie Dalic sein Gegenüber Jorge Samapoli förmlich auscoachte, dürften dem 51-Jährigen weitere Argumente geliefert haben. Dalic überforderte Argentiniens überragende Offensive mit einer 4-1-4-1-Formation und einem teilweise ultra-aggressiven Pressing.
Kroatien erstickte die Angriffsambitionen des Gegners im Keim und trat damit als Gegenentwurf zur Spielweise fast aller anderen vermeintlich "kleineren" Nationen an, die sich in der Hauptsache um den eigenen Strafraum einigeln und vorne auf den lieben Gott hoffen.
Dalic lobt seine Mannschaft: "Wir waren exzellent"
Eine gute Mischung aus einer gewissen Körperlichkeit und einer kompakten Grundordnung ist ein Eckpfeiler von Kroatiens Erfolg. Dazu kommen die sauber eingeschliffenen Abläufe in unterschiedlichen Spielausrichtungen.
In der Defensive sind die Kroaten individuell allenfalls durchschnittlich besetzt: Danijel Subasic ist ein solider Torhüter, Domagoj Vida ein mittelmäßiger Innenverteidiger, die beiden Außenverteidiger Sime Vrsaljko und Ivan Strinic nicht besonders auffällig.
Dejan Lovren ist in diesem Mannschaftsbereich fast ein kleiner Star. Der Innenverteidiger vom FC Liverpool verkörpert gehobenes internationales Format. Obwohl die ganz großen Spieler fehlen, hat diese Formation bisher fast alles wegverteidigt, gegen Nigeria und Argentinien kaum eine Torchance zugelassen.
"Wir haben Argentinien mit dem besten Spieler der Welt geschlagen und ein fantastisches Spiel gemacht. Alles war Extraklasse", urteilte selbst der sonst so ruhige und besonnene Dalic nach der Demonstration gegen Argentinien.
Er strich nochmals mit Nachdruck heraus, dass seine Mannschaft es selbst war, die sich auf die Siegerstraße hievte, und nicht die Schwäche des Gegners ausschlaggebend war. Dalic: "Argentinien war nicht konfus, wir waren exzellent!"
Kroatien besitzt eine überragende Offensive ...
Der gerne unterschätzte Marcelo Brozovic (Inter Mailand) ist das Bindeglied zwischen Defensive und Offensive und als Ankerpunkt ungeheuer wichtig. Aber auch Brozovic ist ein kleiner Name im Vergleich zu den schillernden Figuren, die sich in Kroatiens Offensive tummeln.
Ivan Perisic (Inter Mailand) und Ante Rebic (Eintracht Frankfurt) sind keine klassischen Flügelspieler, sondern gehen mal mit in die Spitze, drängen ins Zentrum, sind bei Kontern unheimlich schnell im Umschalten und so für den Gegner schwer zu packen. Und Mario Mandzukic dürfte im Angriffszentrum einer der unangenehmsten Gegenspieler weltweit sein.
Mandzukic ist der mannschaftsdienliche Prellbock, hart gegen den Gegner und gegen sich, ein Anführer auf dem Platz, der sich mit allem und jedem anlegt und eine Mannschaft mitreißen kann. Und ganz nebenbei ist der Mann von Juventus Turin ein herausragend guter Wandspieler, der seine Mitspieler in Szene setzen und selbst zum Abschluss kommen kann.
... und gute Optionen auf der Bank
Auf der Bank hat Kroatien noch genügend Optionen, die jederzeit eine Partie ändern oder biegen können. Milan Badelj (AC Florenz) ist ein guter Ersatz für Rakitic und Modric, ebenso Mateo Kovacevic von Real Madrid.
Im Angriff reicht es derzeit für Andrej Kramaric oder der von Turin an Schalke ausgeliehene Marko Pjaca nicht für die erste Elf - aber es ist sicherlich ganz beruhigend zu wissen, solche Spieler jederzeit bringen zu können. Kramaric hat es für die TSG Hoffenheim auf immerhin 13 Pflichtspieltore geschafft.
Die Kroaten haben eine gute Mischung aus individueller Stärke und Kollektivgeist gefunden, sie spielen einen variablen, schwer auszurechnenden Fußball mit Herz und Leidenschaft und schlauen Ideen von der Trainerbank. Und das Team bleibt betont sachlich und demütig.
Viele Mannschaften scheitern im Laufe eines Turniers daran, sich zu sehr an sich selbst zu berauschen. Am Ende bedarf es immer auch einer ordentlichen Prise Kälte und Kalkül. Aber nach knapp der Hälfte der Gruppenphase lässt sich festhalten: Wohl keine der ganz großen Nationen möchte diesen Kroaten im Lauf des Turniers begegnen.
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