Auch am Tag danach ist das blamable Ausscheiden der deutschen Nationalmannschaft bei der WM 2018 in Russland nur schwer zu glauben. Für Ex-Kommentator Marcel Reif steht allerdings fest, woran es beim Noch-Weltmeister gehapert hat - und der Kader war es seiner Meinung nach nicht.

Ein Interview

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Das Vorrunden-Aus der deutschen Nationalmannschaft bei der WM 2018 hat auch viele Experten kalt erwischt. Marcel Reif wirkt im Gespräch mit unserer Redaktion allerdings nicht sonderlich überrascht angesichts des blamablen Auftritts der DFB-Elf. Und er weiß auch, woran das Scheitern der Mannschaft festzumachen ist.

Herr Reif, können Sie drei Adjektive nennen, die das Spiel der Deutschen bei dieser WM treffend beschreiben?

Marcel Reif: Leblos, uninspiriert, jämmerlich.

Dass Deutschlands Vorrunden-Aus verdient war, darüber sind sich wohl alle einig. Woran ist der Weltmeister gescheitert?

Es war für alle schon immer schwer, einen Titel zu verteidigen. Die Einstellung "Wir schaffen das dieses Mal" hat gefehlt.

Inwieweit hat die Zusammenstellung des Kaders zum WM-Aus beigetragen?

Bis auf ein, zwei Fragezeichen waren das die besten deutschen Spieler. Es lag nicht am Kader.

Hätten Leroy Sané, Sandro Wagner und Nils Petersen das Ausscheiden verhindern können?

Ich glaube nicht, dass ein einzelner Spieler das geschafft hätte. Grundsätzlich haben es der Trainer und die Mannschaftsführung einfach nicht hinbekommen, der Mannschaft die richtige Einstellung zu vermitteln.

Sie sehen also die Trainer in der Verantwortung. Heißt das also, dass Bundestrainer Joachim Löw jetzt zurücktreten muss?

Nein, das ist mir zu einfach. Ob Löw zurücktreten will oder muss, das muss er mit sich selber ausmachen. Und da muss er ein bisschen Abstand gewinnen.

Aber dass es dem Trainerstab nicht gelungen ist, die Spieler zu ihrer Höchstleistung zu führen, ist unbestritten. Es gab Coaching-Fehler und Aufstellungsfehler. Und es ist vor allem einfach nicht gelungen, das zu schaffen, was man wollte.

Im Vorfeld der WM wurde bei Deutschland häufig die große individuelle Klasse der einzelnen Spieler herausgehoben. Mit Spielern eines solchen Kalibers müsse es bei der Weltmeisterschaft weit gehen, hieß es. War das eine Fehleinschätzung? Sind die deutschen Spieler wie Müller, Kroos oder Özil einfach gar nicht so stark, wie wir immer glauben?

Ich glaube schon, dass die Spieler einzeln so gut sind, wie wir glauben. Die Spieler waren überwiegend Weltmeister, viel mehr kannst du nicht erreichen. Nur ist es nicht gelungen, aus diesen einzelnen Spielern eine Mannschaft zu formen.

Ich fand den ganzen Ansatz - dieses "Wir wollen Historisches schaffen und den Titel verteidigen", "Best Never Rest" und dieses Zeug - nicht gut. Das ständige Zurückschauen auf die WM vor vier Jahren hat offenbar zusätzlich Druck aufgebaut. Man hätte einfach nur ein Turnier spielen sollen. Aber genau das hat nicht funktioniert.

Also ist es auch keine Systemfrage? Jogi Löws Festhalten am immer gleichen System wird ja nun auch kritisiert ...

Nein. Es ist zwar vieles vercoacht worden und vieles ist nicht richtig gelaufen, aber das war es nicht. Die Einstellung war das Problem, nicht die Aufstellung.

Mit welchen Spielern kann die deutsche Nationalmannschaft jetzt den Umbruch schaffen und bei welchen Spielern rechnen Sie vielleicht mit einem Rücktritt?

Ich wüsste keinen, der in einem Alter ist, in dem er sagen würde "Ach, das muss ich mir nicht mehr antun". Mario Gomez vielleicht [Gomez wird im Juli 33 Jahre alt, Anm.d.Red.]. Sonst sind alle in einem Alter, in dem du noch weiterspielen kannst. Und mit der richtigen Einstellung können die alle noch großen Fußball spielen.

Das ist ja die Problematik. Wenn das eine überalterte Mannschaft wäre und man könnte einige Spieler aussortieren, dann wäre das natürlich einfacher. So aber muss man feststellen, dass man hervorragende Spieler hat, die auch nicht zu alt sind. Wie kriegt man die jetzt dazu, ihre beste Leistung abzurufen?

Thomas Müller hat nach dem Spiel gegen Südkorea auch von "Störfeuern von außen" gesprochen. Inwieweit, glauben Sie, hat die Erdogan-Affäre die Mannschaft negativ beeinflusst?

Natürlich hat das die Spieler negativ beeinflusst. Vor allem in der Vorbereitung, wo es ja eigentlich darum gegangen wäre, sich in diesen positiven Aggregatzustand zu bringen, die richtige Einstellung zu finden. Das ist unstrittig.

Haben Sie Özil und Gündogan gesehen? Das hat auch deren Form nicht gut getan und der Mannschaft auch nicht. Natürlich hat das mit reingespielt.

Glauben Sie, dass Özil vielleicht ein Kandidat für einen Rücktritt aus der Nationalmannschaft wäre? Inzwischen ähnelt manche Berichterstattung über ihn ja fast schon einer Hetz-Kampagne.

Nein, nein, wir machen hier Özil nicht zum Opfer. Er hat das Foto [mit Erdogan] gemacht, nicht die anderen. Er hat sich nicht dazu geäußert. Er hat es laufen lassen und sich damit außerhalb der Ziele der Mannschaft gestellt. Nein, nein, nein, Özil ist kein Opfer.

Aber ist Özil auch aus sportlicher Sicht tatsächlich so schlecht, wie ihn viele sehen?

In diesem Turnier war er sportlich einfach schlecht. Er ist möglicherweise auch überschätzt. Er hat in großen Spielen, auch im Verein, seit langer Zeit keine guten Leistungen mehr abgeliefert. Er wird sich hinterfragen müssen. Denn er könnte mehr. Deshalb wird er ja auch intensiver beäugt als mancher andere.

Schon während der laufenden Saison haben sich die deutschen Mannschaften nicht mit Ruhm bekleckert, auch der FC Bayern München ist in den entscheidenden Spielen gescheitert. War das bereits ein Vorbote auf diese desaströse WM?

Verein und Nationalmannschaft muss man immer ein bisschen trennen. Die Vereine spielen ihr eigenes Ding, die Nationalmannschaft hingegen kam als Weltmeister daher. Ich halte das eher für einen Zufall.

Aber natürlich waren Spieler dabei, deren Saison, vor allem zum Ende hin, nicht gut gelaufen ist. Sami Khedira ist mit Juventus Turin in der Champions League gescheitert, auch die Bayern-Spieler waren mit ihrer Saison unzufrieden. Das schleppt man schon mit. Aber das ist auch das Einzige, was ich als Querverweis akzeptieren würde.

Wie geht es jetzt in den nächsten Tagen und Wochen beim DFB weiter?

Ich hoffe, dass man keine Frage ungestellt lässt. Es darf kein Denkverbot geben. Man muss jetzt über alles nachdenken. Auch über den Trainer, auch über manche Spieler. Aber das muss man in Ruhe machen, nicht direkt in der Emotion nach so einem Desaster.

Eine letzte Frage: Wer wird denn jetzt Weltmeister?

Das kann ich Ihnen nach der Vorrunde überhaupt noch nicht sagen. Ich habe noch keine Mannschaft so gesehen, wie sie wirklich spielen kann. Die mussten sich erst einmal alle mit den kleinen Mannschaften herumschlagen, die ohnehin nach Hause fahren. Mal von den Deutschen abgesehen.

Belgien ist aber ein schöner Geheimfavorit. Das hätte etwas Romantisches.

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