Druck, Ängste und die mentale Gesundheit sind im Profifußball immer noch Tabuthemen. Die ZDF-Doku "Erfolgsdruck im Fußball" kann vor allem mit offenen und ehrlichen Protagonisten überzeugen, deren Einblicke zeigen, wie wichtig der offene Umgang mit der Problematik ist.
Die Zahlen sind alarmierend. Und dass Profifußballer nach Ansicht der Studienlage eine Risikogruppe beim Thema Suizid darstellen, ist es ebenfalls. Im Profifußball wurden seit Bestehen der Bundesliga 120 Suizide weltweit veröffentlicht, zehn davon in Deutschland. Von zuletzt 50 befragten Spielern der Bundesligavereine (31 Nachwuchsspieler und 19 Profis) haben sechs Suizidgedanken eingeräumt, darunter vier Profis. Das ergibt bei den Profis 21,5 Prozent. Daneben hat die TSG Hoffenheim im Rahmen einer Studie über eine Saison lang alle Spieler von der U12 bis zu den Profis mehrmals anonym befragt. 20 Prozent litten im Laufe der Spielzeit an depressiver Verstimmung oder Angstzuständen.
Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Zahlen noch alarmierender wären, wenn es die Dunkelziffer nicht gäbe. "Mal utopisch hochgerechnet, ist 21,5 Prozent eine völlig absurde Zahl. Dann wäre es eigentlich schon zwanzig nach Zwölf", sagt der Psychologe Marek Pesicka. Wie hoch diese Zahl tatsächlich ist, ist unklar. Doch fest steht, dass die Themen Druck, Angst und mentale Gesundheit im Profifußball immer noch zu zurückhaltend behandelt werden. Deshalb ist jeder Beitrag, der sich mit dem Problem beschäftigt, Gold wert. Wenn er es gut macht, umso besser und hilfreicher.
Offene Ehrlichkeit, heftige Wucht
Dass die gut 45-minütige ZDF-Doku "Erfolgsdruck im Fußball" von Filmemacherin und Autorin Ella Poulhalec einige namhafte Protagonisten vor die Kamera holt und diese auf sehr nachdrückliche Art und Weise ehrliche Einblicke in das Seelenleben gewähren lässt, trifft in seiner Wucht den Zuschauer möglicherweise etwas unvorbereitet. Denn schonungslose Offenheit ist in der Branche eine Seltenheit, erst recht, wenn es um die eigene, mentale Gesundheit geht. Leider ist vor allem der Kopf im Profifußball immer noch ein Tabuthema. Doch Dokus wie die des ZDF können möglicherweise dabei helfen, das Ganze anzuschieben.
"Dass die Psychologie im Profifußball, aber auch gesamtgesellschaftlich immer noch so einen geringen Stellenwert hat, regt mich auf und macht mich traurig", sagt Nationalspieler
Das findet Gosens "geisteskrank"
Denn was auch zur mentalen Gesundheit, zum Druck im Profußball gehört, sind die sozialen Medien, die das Geschäft einschneidend verändert haben. Hassnachrichten sind leider an der Tagesordnung, Morddrohungen keine Seltenheit. Was Gosens "geisteskrank" findet und weshalb er "immer wieder" versucht, sich in diese Menschen hineinzuversetzen.
"An welchem Punkt in ihrem Leben müssen die sein? Welche Faktoren müssen zusammenkommen, dass sie sich bewusst vor ihr Smartphone setzen, mein Profil aufrufen, die Nachricht eintippen 'Du und dein Familienstammbaum müssen ausgerottet werden' und mir das dann senden?", fragt er fassungslos. Er habe niemanden umgebracht, "sondern im schlechtesten Fall gerade 90 Minuten schlecht Fußball gespielt".
Protagonisten als Stärke
Die Doku zeigt in den Protagonisten eine enorme Stärke, auch in der Bandbreite. Neben Betroffenen kommen zum Beispiel auch Bild-Chefredakteur Matthias Brügelmann und Ex-Moderator Marcel Reif zu Wort. Denn natürlich spielen auch die Medien beim Thema Druck im Profifußball eine essenzielle Rolle, oft eine negativ belastete. "Der Druck kommt fast ausschließlich von den Medien. Und die haben gar nichts gelernt", kritisiert Bayern Münchens Ehrenpräsident
Keine Frage: Zahlen verdeutlichen, dass das Problem der Psyche offenbar immer noch keine große Sache für die Verantwortlichen ist. Interessant ist, dass die beiden Fußball-Legenden Uli und Dieter Hoeneß davon ausgehen, dass die deutschen Profiklubs das Thema auf ihrer Agenda haben und sich ihrer Verantwortung bewusst sind, weil laut Dieter Hoeneß der mentale Bereich "zu 30,40 oder 50 Prozent" zum Erfolg beitrage. Die Doku hält als Replik entgegen, dass drei Bundesliga- und zwei Zweitliga-Klubs eine dauerhafte therapeutische Hilfe anbieten, eine teilweise Betreuung sechs und fünf Klubs. Rund die Hälfte der Vereine also gar keine. Warum das heutzutage immer noch so ist, bleibt in der Doku aber leider offen. Dafür ist die Tiefe bei der Ursachenforschung ein deutlicher Pluspunkt.
Zahlen sind schnell vergessen
Doch oft sind Statistiken und Zahlen sowieso schnell vergessen. Was nachhaltig Eindruck hinterlässt und hängenbleibt, sind Erzählungen wie die von Gosens oder der früheren Bundestrainerin Martina Voss-Tecklenburg, die nach dem WM-Aus mit der Frauen-Nationalmannschaft im vergangenen Jahr für längere Zeit krankgeschrieben war.
Sie hatte den Verantwortlichen beim Deutschen Fußball-Bund (DFB) gesagt, dass sie weitermachen wolle. "Und ich bin nach Hause gefahren und bin am nächsten Tag zusammengebrochen. Ich war leer, ich war kaputt, ich war müde. Wenn mich jemand gefragt hat, wie geht es dir, habe ich angefangen zu weinen. Ich hatte keine Kraft mehr, ich hatte keine Energie mehr. Und ich hätte dieser Rolle nicht gerecht werden können", sagt sie. Worte, die ihre Wirkung nicht verfehlen.
Ängste in den Augen
Sie berichtet zudem von Ängsten in den Augen bei Spielerinnen, von Spielerinnen, die ihre Karrieren beendet haben, "weil sie körperlich, psychisch und physisch krank geworden sind". Gosens und Schalke-Profi Timo Baumgartl erzählen, dass Teamkollegen vor Spielen auf die Toilette gehen und sich den Finger in den Hals stecken, sich übergeben, in ihrer eigenen Welt sind, Angst davor haben, rauszugehen. Gosens suchte das Gespräch, "ich habe aber die Erfahrung gemacht, dass es abgetan wird". Denn eine eigene Schwäche zuzugeben, gilt offenbar immer noch als No-Go.
Passend dazu erklärt Prof. Dr. Andreas Marlovits, der die Spieler von Hannover 96 nach dem Selbstmord von Robert Enke psychologisch betreute, dass es Spieler gab, die schwere Verletzungen hatten wie einen Kreuzbandriss. "Und die waren teilweise froh, sechs bis acht Monate raus aus dem Geschäft zu sein", sagt er.
Es gibt auch positive Beispiele
Was gut ist: Dass es auch positive Beispiele gibt, die zeigen, wie es laufen kann, wie wichtig Offenheit und Hilfe sind. Dass zum Beispiel Hoffenheim in dem Bereich im eigenen Verein aktiv und präventiv vorgeht. Oder dass die Mannschaft von Werder Bremen Niklas Schmidt zur Seite stand, dazu auch der Trainer, die Ärzte. "Zum Glück ist dieser Ausbruch nach dem Training passiert", gibt er zu.
Bei seinem neuen Klub FC Toulouse erlitt er zuletzt einen Rückfall, wurde aber dort ebenfalls aufgefangen. Auch, weil seine Vorgeschichte bekannt war. Was zeigt: Zahlen mögen alarmierend sein. Essenziell ist es, offen mit den Problemen umzugehen. Und gehört zu werden.
Verwendete Quellen
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