Die deutschen Handballer sind mit einem Ausrufezeichen gegen die Schweiz in die Heim-EM gestartet. Für die DHB-Auswahl gilt es, am Sonntag gegen Nordmazedonien im zweiten Gruppenspiel nachzulegen. Wir haben mit Ex-Nationalspieler Sven-Sören Christophersen über seine Eindrücke, das Publikum als achten Mann, Verbesserungspotenziale und seine Hoffnungen für die Handball-Bundesliga gesprochen.
Herr Christophersen, der Auftakt der deutschen Handballer gegen die Schweiz war ein voller Erfolg, in jeglicher Hinsicht. Wie haben Sie das Drumherum als ZDF-Experte erlebt?
Sven-Sören Christophersen: Die besondere Situation war schon am Vortag spürbar. Ich habe eine Anspannung bei allen Verantwortlichen wahrgenommen – das war ein spezielles Erlebnis. Ich habe großen Respekt vor der Nationalmannschaft, dass sie dem Druck gewachsen war und so ein Ergebnis geliefert hat. Ich glaube, dass der Sieg, ohne zu viel aus diesem Spiel herausziehen zu wollen, wichtig war für den weiteren Verlauf des Turniers. Es war ein Auftakt, der Lust auf mehr macht.
Herausfordernder Spielmodus bei der EM
Wie ist Ihr Eindruck von der Mannschaft? Spielerisch, aber auch vom Auftreten her: Das wirkte sehr reif, auch im Umgang mit dem Sieg.
Ich freue mich über die Zusammenstellung des Kaders – da sind wirklich sehr viele reflektierte Charaktere dabei. Das Event zu genießen, den Sieg aber auch nicht zu hoch zu hängen, zeugt von einer gewissen Reife und Erfahrung. Es war gegen die Schweiz noch nicht europäisches Top-Niveau – das soll die Leistung gar nicht schmälern. Doch es wird jetzt darauf ankommen, sich sukzessive zu steigern. Denn die Qualität und die Leistungsdichte sind bei einer EM ein Stück höher als bei einer WM. Und der Spielmodus ist eine Herausforderung. Insofern braucht es da auch weiterhin eine Entwicklung im Team.
War Deutschland so stark oder die Schweiz schwächer als erwartet?
Das bedingt sich meist: Weltklasse im Tor fängt bei 40 Prozent gehaltener Bälle an. Andi Wolff geht mit 61 Prozent raus – das ist im positiven Sinne absurd und zieht einer gegnerischen Mannschaft auch den Zahn. Irgendwann waren die Schweizer in einem Modus, in dem sie gar nicht mehr zum Tor durchgekommen sind und die Bälle dann auch weggeschmissen und technische Fehler gemacht haben. Man muss sich aber auch vor Augen führen, dass unsere Abschlussquote, in Kombination mit der Fehlerquote im Angriff, nicht immer gut war. Und das kann gefährlich werden – dann kann so ein Spiel auch in eine andere Richtung laufen. Deshalb war es gut zu sehen, dass die Mannschaft weitergemacht und früh für klare Verhältnisse gesorgt hat.
Was ist der Sieg gegen die Schweizer nun wert neben den beiden Punkten?
Ich habe großen Respekt vor den Jungs, wie sie dieses Druckspiel angegangen sind. Wir alle haben Lust, zweieinhalb Wochen ein Handballfest in Deutschland zu feiern, was sich deutlich besser feiern lässt, wenn der Gastgeber erfolgreich mitmischt. Es sind so viele Punkte, die dafür sprechen, dass es gut war, dieses Auftaktspiel so zu gestalten. Aber wenn man es tatsächlich herunterbricht, war es auch 'nur' ein Auftaktspiel. Ich hoffe, dass es ein gutes Fundament ist, um mit ordentlich Anlauf in dieses Turnier zu starten, nachzulegen und es nicht bei diesem einen Highlight zu belassen.
Welche Erkenntnisse nehmen Sie noch mit: Wo gibt es noch Verbesserungsbedarf?
Im Überzahlspiel haben wir nicht gut agiert, da haben wir die Chancen nicht so herausgespielt, wie man es vielleicht in einem Spiel braucht, das eng ist. Da hatte das deutsche Team zu leichte technische Fehler drin – allerdings wurde dann extrem gut zurückgearbeitet, sodass Fehler direkt ausgemerzt werden konnten.
Wie wichtig kann das Publikum noch werden? Jetzt kommen ja die Hallen, die Hexenkessel, nochmal eine aggressivere Stimmung im positiven Sinne.
Wir haben alle schon erlebt, was das bedeuten kann: Das ist im Prinzip der achte Mann, der hinter der Mannschaft steht. Und wenn ein Funke da ist, wird das Publikum ihn auch aufnehmen und das Euphorie-Feuer anzünden. Das bedeutet allerdings nicht, dass alles von alleine geht. Das sind dann ein paar Prozentpunkte, die vielleicht, wenn ein Spiel knapp ist, über Sieg oder Niederlage mit entscheiden können. Es wird spannend sein zu sehen, inwieweit man diesen Schwung mitnehmen kann.
Am Sonntag geht es in Berlin weiter: Wie unangenehm ist Nordmazedonien?
Die Franzosen haben sich umgeschaut – und nach 20 Minuten haben die Nordmazedonier mit zwei Toren geführt. Sie haben international erfahrene Spieler, die es verstehen, Handball zu spielen. Und für die es jetzt um alles geht, wenn sie die Hauptrunde erreichen wollen. Vielleicht erhoffen sie es sich, gegen den Gastgeber als Underdog für eine Überraschung zu sorgen. Die Dynamiken können andere sein, sodass wir gut beraten sind, uns wieder auf eine gute Deckungsarbeit zu besinnen und ähnlich engagiert zu Werke gehen wie gegen die Schweiz. Wir müssen uns im Angriff ein Stück weit steigern, was die Effektivität angeht.
Lesen Sie auch
Über Frankreich ist im Grunde alles bekannt. Wie haben Sie den Rekordweltmeister gesehen?
Sie waren vermutlich beeindruckt von der Atmosphäre. Die mussten sich dann auch erstmal schütteln und haben festgestellt, dass sie einen Gang hochschalten müssen. Das gelingt nicht immer automatisch – da muss man den Franzosen Respekt zollen, wie sie das können. Gegen Frankreich müssen wir wirklich am Leistungsmaximum spielen, um für die zwei Punkte infrage zu kommen. Wenn wir davon ausgehen, dass es gegen Nordmazedonien einen Sieg gibt, dann ist das Frankreich-Spiel im Prinzip der Auftakt in die Hauptrunde, denn die Punkte nimmt man mit – und das wäre extrem wertvoll. Doch erst einmal muss das Spiel am Sonntag gewonnen werden.
"Im Leistungssport darf man schon eine gewisse Erwartungshaltung haben"
Sie hatten im Vorfeld der EM darauf gehofft, dass es ins Halbfinale gehen kann. Fühlen Sie sich bestätigt?
Im Leistungssport darf man schon eine gewisse Erwartungshaltung haben. Deswegen möchte ich mich nicht zu sehr an dem Sieg gegen die Schweiz aufhängen, weil der für eine deutsche Nationalmannschaft Grundvoraussetzung ist, um ein erfolgreiches Turnier zu spielen. Das heißt, dass die Antworten hinsichtlich eines potentiellen Halbfinals eher in dem Spiel gegen Frankreich zu suchen sind. Da bekommt man ein Gefühl dafür, wie wahrscheinlich das ist. Hinzu kommt: Geht ein Spiel schief, und da zählt das Frankreich-Spiel dazu, steht man ja schon mehr oder weniger mit dem Rücken zur Wand und in den weiteren Hauptrundenspielen extrem unter Druck. Insofern wünsche ich mir, dass die deutsche Nationalmannschaft über den Zeitraum dieser EM eine Euphorie-Welle entfachen kann.
Vor dem ersten Spiel gab es die Sorge, dass der Hype und die Erwartungshaltung für Druck und Lähmung sorgen könnten. Hat das Team das hinter sich gelassen?
Es ist eine andere Aufmerksamkeit, aber wir befinden uns im Spitzensport. Das ist etwas, das wir uns alle bewusst ausgesucht haben und was auch unseren Alltag bestimmt. Natürlich nicht immer mit dieser großen Aufmerksamkeit, aber die Jungs werden ja alle dafür bezahlt, guten Handball zu spielen. Insofern ist es jetzt keine komplett neue Situation, doch dieser besondere Druck ist spürbar. Und das mediale Echo ist auch ein anderes im Erfolgs-, aber auch im Misserfolgsfall. Man sollte seine Gedanken in die Richtung strukturieren, wie man das Maximale aus dieser Situation herausholen und wie man sich von dem Publikum pushen lassen kann.
Nach dem Spiel wurde oft von einem neuen Wintermärchen gesprochen. Wie schafft man den Spagat, um die Euphorie-Welle optimal nutzen zu können?
Die Spieler müssen sich auf das fokussieren, was ihr tägliches Geschäft ist: Spiele zu gewinnen, sie bestmöglich zu bestreiten. Und dann ist der DHB als Ausrichter gefordert, das vernünftig zu kanalisieren, indem die Jungs für Medienanfragen zur Verfügung stehen, wenn dafür Zeit ist, und sie aber abgeschottet werden, wenn sie sich aufs Spiel fokussieren müssen. Und dann ergibt sich das fast von selbst.
7,6 Millionen Menschen haben das erste Spiel im ZDF verfolgt. Die Menschen dürsten offenbar nach Handball beziehungsweise generell nach den Sportarten hinter König Fußball.
Ich freue mich sehr über die Zuschauerzahl, denn wir waren vor Ort ein bisschen in einer "Weltrekordblase" – es war alles überdimensional. Wenn das an den Fernsehbildschirmen angekommen ist und wahrgenommen wurde, dann haben wir unseren Job gemacht. Ich freue mich, wenn es so weitergeht, denn Handball ist ein Sport, der begeistern kann. Vielleicht ist noch nicht jedem bekannt, wie viel da passiert, wie viel Action es gibt, und was für gute Jungs die Protagonisten sind.
Wo sehen Sie den Handball im Vergleich zu Basketball und Eishockey?
Unser Ziel ist es, dass wir weiterhin die Nummer zwei hinter dem Fußball bleiben. Unsere Liga gilt zu Recht als stärkste Liga der Welt, vor allem, was die Breite, die Brisanz und die Spannung der Spiele angeht.
Erfolgreiche Turniere können Anschub für die Ligen sein. Was erhoffen Sie sich für die Handball-Bundesliga?
Wir wollen die Bühne nutzen, um den Spaß, den dieser Sport bietet, und die Werte, die er vermittelt, den Menschen näherzubringen. Wenn sie in Kontakt mit der Sportart kommen, stellen sie vielleicht fest, dass Handball ihnen Freude macht – und sie dann auch den Weg in die Bundesliga-Hallen finden. Oder dass Kinder für die Sportart begeistert werden und ihren Eltern sagen, dass sie das einmal ausprobieren wollen. Denn der Sport vermittelt so viel für das weitere Leben: Was bedeutet es, für ein Ziel zu arbeiten? Ich muss dafür trainieren. Ich muss mich mit meinen Mannschaftskollegen auf eine gemeinsame Vision, auf ein gemeinsames Ziel einigen. Ich muss lernen, mit Misserfolgen umzugehen. Handball ist ein tolles Spiel, weil es viele Dinge miteinander vereinigt. Und die Begeisterung und das Interesse dafür können auf höchster Ebene geweckt werden.
Über den Gesprächspartner
- Sven-Sören Christophersen (38) absolvierte von 2003 bis 2018 insgesamt 429 Spiele in der Handball-Bundesliga, zudem 101 Länderspiele für die deutsche Nationalmannschaft. Er ist heute Sportchef der TSV Hannover-Burgdorf und zudem ZDF-Experte.
"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.