Verletzungsnot, Überbelastung, Terminhetze – die Vorzeichen der deutschen Handball-Nationalmannschaft könnten vor der Europameisterschaft in Österreich, Norwegen und Österreich (ab 9. Januar) kaum schlechter sein. Dennoch ist ein Durchmarsch ins Halbfinale möglich.

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Schwierige Wochen liegen hinter Bundestrainer Christian Prokop. Seine Bemühung, eine starke Mannschaft bei der Europameisterschaft 2020 an den Start zu bringen, war immer wieder von verletzungsbedingten Rückschlägen geprägt. Besonders betroffen: die Position des Spielmachers – die wichtigste Position im Handball.

Fast alle Spieler, die für diese Funktion in Frage kommen, mussten sich abmelden. Tim Suton und Simon Ernst zogen sich jeweils einen Kreuzbandriss zu. Martin Strobel, der Europameister von 2016, sagte aus mangelnder Fitness ab. Und als wäre das nicht schon ärgerlich genug, verletzten sich im Dezember auch noch Fabian Wiede und Steffen Weinhold.

Das ist ungefähr so, als müsste Fußball-Bundestrainer Joachim Löw bei der Europameisterschaft im Sommer auf Toni Kroos, Joshua Kimmich, İlkay Gündogan, Leon Goretzka und Julian Draxler verzichten – also auf alle Akteure, die ein Spiel gestalten können.

Überhaupt ist der Rückraum, also die hintere Reihe im Angriffsspiel, sehr ausgedünnt. Inklusive der Ausfälle von Niclas Pieczkowski und Franz Semper fehlen sieben Leistungsträger, also ein kompletter Mannschaftsteil. Doch die Handballer wollen dem Verletzungspech trotzen. Ganz nach dem Motto: Jetzt erst recht.

Handball-EM: Erinnerungen an den Titel 2016 machen Hoffnung

"Die Ausfälle sind natürlich bitter", sagt Nationalspieler Patrick Wiencek, der Handballer des Jahres 2018, im Gespräch mit unserer Redaktion, bleibt aber zuversichtlich: "Wir haben in Deutschland viel Qualität. Bei der Europameisterschaft 2016 haben wir gesehen, dass man auch mit anderen Spielern eine Menge erreichen kann. Von daher bin ich sehr zuversichtlich."

Zur Erinnerung: Im Januar 2016 wurde Deutschland Europameister, obwohl die Mannschaft vor und während des Turniers zahlreiche Verletzungsausfälle verkraften musste. Mit einer geschlossenen Mannschaftsleistung marschierte eine junge deutsche Mannschaft durch das Turnier und löste mit dem Titelgewinn einen zumindest kurzzeitigen Handball-Boom aus.

Kann selbiges nun erneut gelingen? "Wir gehören aufgrund der vielen Verletzungsausfälle sicherlich nicht zu den Favoriten. Aber wir haben dennoch viel Qualität und können eine Menge erreichen", sagt Wiencek.

Hohe Belastung in der Bundesliga erhöht Verletzungsgefahr

Die Verletzungsmisere in Deutschland ist kein Zufall, sondern vielmehr das Ergebnis der hohen Belastung. Die deutsche Bundesliga gilt als die beste und vor allem ausgeglichenste Liga der Welt. Im Gegensatz zu vielen ausländischen Vereinen, die lediglich in der Champions League ihre Top-Stars durchgängig einsetzen, müssen die deutschen Profis auch im Ligabetrieb meist komplette Spiele durchspielen.

Der ehemalige Bundestrainer Heiner Brand beklagt im Gespräch mit unserer Redaktion: "Die Belastung im Ligabetrieb ist groß. Die deutschen Nationalspieler haben nie die Möglichkeit, ein wenig durchzuschnaufen." Die logische Folge der Überbelastung: viele Verletzungen.

Und selbst die deutschen Nationalspieler, die bei der Europameisterschaft gesund sind, haben viele Spiele in den Knochen. Der letzte Bundesligaspieltag des Jahres 2019 fand erst am 29. Dezember statt. Dementsprechend kurz fiel die Vorbereitung auf die Europameisterschaft aus.

"Natürlich ist das kein Vorteil für uns", gibt Wiencek zu. "Andere Nationen wie Polen oder Frankreich sind früher in die Pause gegangen. Es ist für deren Nationalmannschaft ideal, die Spieler früher bei sich zu haben."

Gute Chancen auf das Halbfinale

Verletzungspech hin, kurze Turniervorbereitung und Überbelastung her – Deutschland könnte bei der Europameisterschaft trotz aller Widrigkeiten ein erfolgreiches Turnier spielen. Davon ist nicht nur Wiencek, sondern auch Heiner Brand überzeugt: "Ich sehe gute Chancen auf das Halbfinale."

Seine Rechnung geht folgendermaßen: In der Gruppe hat Deutschland mit den Niederlanden (9. Januar, 18:15 Uhr), Spanien (11. Januar, 18:15 Uhr) und Lettland (13. Januar, 18:15 Uhr) machbare Aufgaben bekommen.

Niederlande und Lettland sind keine Handball-Nationen. Spanien ist zwar der amtierende Europameister, hat den Zenit wohl aber überschritten.

Deutschland muss auf Platz 1 oder 2 landen, um in die Hauptrunde, also praktisch eine zweite Gruppenphase, einzuziehen. Auch dort wäre die Gruppenkonstellation aus deutscher Sicht günstig, wie Brand erklärt: "In der Hauptrunde warten keine Favoriten wie Dänemark, Norwegen, Schweden oder Frankreich."

Deshalb traut Brand der verletzungsgebeutelten Mannschaft zu, auch in der jeweils sechs Mannschaften umfassenden Hauptrunde Platz 1 oder 2 zu belegen und in das Halbfinale zu gelangen: "Der weitere Verlauf hängt dann von der Tagesform ab."

Die Defensive als Prunkstück

Mag die Offensive geschwächt sein, so könnte vielleicht die Defensive in den großen Spielen auftrumpfen. "Mit Andreas Wolff und Johannes Bitter haben wir im Tor eine gute Grundlage", sagt Brand. "Auch die Abwehr ist mit Patrick Wiencek und Hendrik Pekeler in der Mitte gut besetzt. Sofern die beiden körperlich fit sind, haben wir mit ihnen die beste Abwehr von Europa."

Der große Vorteil: Ballgewinne in der Abwehr ermöglichen schnelle Gegenangriffe und somit einfache Tore. Möglicherweise würde man dann gar nicht merken, dass Deutschland ein hochkarätiger Spielmacher fehlt.

Verwendete Quellen:

  • Interview mit Patrick Wiencek
  • Interview mit Heiner Brand

"Geilheit" entfachen: DHB-Team startet EM-Vorbereitung

Voller Vorfreude hat sich die Handball-Nationalmannschaft zum Auftakt ihrer EM-Mission in Frankfurt zusammengefunden. Die derzeitige Verletzungsmisere weckt Erinnerungen an das Turnier 2016, im negativen wie im positiven Sinne. (Teaserbild: picture alliance / Pressefoto Ba) © ProSiebenSat.1
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