Höher, größer, weiter? Die diesjährige Tour de France besticht mit 3.500 Kilometern und rund 52.000 Höhenmetern. Drei große Favoriten kommen aus einer Verletzung, ihre Form ist eine Wundertüte, sagt der frühere Sprintstar Marcel Kittel und verrät im Interview, wen er am stärksten einschätzt – und wie die Deutschen abschneiden.

Ein Interview

Solch eine Tour de France gab es noch nie: Ein Tourstart in Florenz und eine Bergetappe mit 206 Kilometern und 3600 Höhenmeter gleich vor der ersten Ankunft. Auch das Ende wird anders sein als sonst: Statt einer ruhigen und glamourösen Zieleinfahrt in Paris auf der Champs Elysées gibt es ein Einzelzeitfahren, durch das die Entscheidung erst am letzten Tag fallen könnte.

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Der frühere Sprinter Marcel Kittel, der bei der Tour de France insgesamt 14 Etappen gewann, spricht im Interview mit unserer Redaktion über das Streckenprofil beim diesjährigen Klassiker, die Chancen der acht deutschen Fahrer und den Einstieg von Red Bull bei Bora-Hansgrohe.

Höher, größer, weiter: Die Tour de France ist dieses Jahr spektakulärer denn je mit gleich 3600 Höhenmetern bei der ersten Etappe. Was haben sich die Veranstalter dabei gedacht?

Marcel Kittel: Der erste Eindruck ist: Hier hatte jemand Lust auf Spektakel. Mit Pogacar, Vingegaard, Evenepoel und Roglic gibt es mehrere Topfavoriten auf den Gesamtsieg. Die Tour legt sich die Strecke immer ein bisschen so, dass die Favoriten am besten auftreten können. Das erklärt den Start in Italien. Als es viele Topsprinter gab, wurde mal ein flacher Start eingebaut. Dann hatte ein Sprinter ein paar Tage lang das Gelbe Trikot. Jetzt spielen die Klassementfahrer die Hauptrolle.

Kittel: "Vingegaard ist eine Wundertüte"

Welcher Typ Fahrer hat zum Start die besten Chancen, vorn mitzufahren?

Die bergfesten Fahrer. 3.600 Höhenmeter ist kein Profil mehr, über das ein bergfester Sprinter kommt. Im Finale wird es sicher ein Feuerwerk geben, bei dem man die ein oder andere Überraschung sieht. Da spielt es eine Rolle, dass man mehrere Topfavoriten hat, die verletzt waren – und dann gleich diese schwere Etappe. Dadurch kommt zusätzlich Öl ins Feuer. Die Tour ist noch nie mit einer so schweren Etappe gestartet.

Es gibt einige Favoriten auf dem Papier, doch Jonas Vingegaard, Primoz Roglic, Remco Evenepoel haben sich im Frühjahr bei der Baskenlandrundfahrt schwer verletzt. Bleibt also nur Tadej Pogacar als echter Favorit?

Wenn wir uns die letzten Wochen anschauen, ist Pogacar als Erstes zu nennen, auch, weil er den Giro d’Italia souverän und dominant gewonnen hat. Die Kombi Giro- und Tourgewinn ist eine besondere, weil der zeitliche Abstand so kurz ist. Deshalb stellt sich bei ihm die Frage: Kann er das so durchziehen? Oder muss er Federn lassen, weil er noch müde vom Giro ist? Interessanter ist aber die Frage: Wie fit sind Vingegaard, Roglic und Evenepoel nach ihren Stürzen und Verletzungen?

Bei Vingegaard, dem Toursieger 2022 und 2023, war lang nicht klar, ob er überhaupt starten kann. Wie schätzen Sie seine Form ein?

Bei ihm war es ein Tanz auf Messers Schneide, ob er dabei sein kann. Wenn die Mannschaft ihn für die Tour nominiert, sagt das etwas über das Vertrauen aus, das sie in ihn haben. Visma-Leas a Bike ist ein Team, das stark auf Analyse setzt, es wertet die Daten der Fahrer, die Rennprofile aus – sie wissen, was man braucht, um die Tour zu gewinnen. Er bleibt aber eine Wundertüte. Man weiß nicht, ob er nach dem Sturz drei Wochen durchhält oder nur eine.

Man muss sich während der Tour weiterentwickeln

Wie steht es um Primoz Roglic?

Roglic ist der Älteste im Favoritenkreis mit 34 und hat dadurch eine gewisse Grundkondition. Roglic ist mit einem anderen Team am Start, Bora-Hansgrohe, und fährt seine erste Grandtour auf Sieg. Er muss sich mit der Mannschaft finden, hat das Critérium du Dauphiné gewonnen, musste aber Federn lassen. Auch bei ihm stellt sich die Frage, ob er das Niveau bis in die dritte Woche durchhält. Er ist fit, aber ein Toursieg wird schwer.

Wie bereitet man sich als Fahrer auf solch eine Tour vor?

Die Tour ist in diesem Jahr einfach zu charakterisieren. Innerhalb der ersten vier Tage haben sie eine Alpenetappe, bei der es über den Col du Galibier geht. Es wird interessant, wie die Fahrer auf die Höhe reagieren. Die letzte Woche wird wieder richtig schwer mit Ankünften auf großer Höhe – da ist es notwendig, dass man sich während der Tour weiterentwickelt. Die Frische spielt eine große Rolle.

Wie haben Sie in Ihrer Karriere am besten regeneriert?

Ich kann mich nicht mit den Klassementfahrern vergleichen. Ich habe mich bestimmt schlechter regeneriert als die Klassementfahrer. Meine Daten wurden einmal analysiert und dabei kam heraus, dass ein Sprinter mit meiner Statur und meinen Fähigkeiten etwa zehn Prozent mehr leisten muss bei einer Bergetappe.

Novum bei der letzten Etappe

Die letzte Etappe ist dieses Jahr ein Einzelzeitfahren von Monaco nach Nizza. Was bedeutet das für das Spannungslevel?

Da bin ich befangen. Paris wurde leider gestrichen durch die Olympischen Spiele. Das tut mir in meinem Sprinterherz echt weh. Ich hoffe, dass das Einzelzeitfahren in Nizza spannend wird. Gefühlt ist die Tour dadurch für die Klassementfahrer einen Tag länger. In Paris müssen sonst nur die Sprinter nochmal ran. Das ist jetzt anders.

Wie wahrscheinlich ist es, dass über den Sieg am letzten Tag entschieden wird?

Es ist alles möglich. Auch wenn er stark aussieht: Pogacar kann krank werden, kann stürzen. Dann sieht das Rennen plötzlich anders aus. Die anderen, also Vingegaard, Evenepoel, Roglic oder auch Carlos Rodriguez, warten natürlich auf diese schwachen Momente.

Simon Geschke, Nils Politt, Nico Denz, Phil Bauhaus, Georg Zimmermann, John Degenkolb, Nikias Arndt, Pascal Ackermann starten als deutsche Fahrer. Was ist von ihnen zu erwarten?

Wir haben, wie in den vergangenen Jahren, acht Fahrer. In den letzten Jahren hat sich aber einiges verändert. Wir haben nicht mehr die Top-Sieganwärter, trotzdem haben wir Jungs dabei, die eine gute Chance haben, ein gutes Ergebnis einzufahren und auch mal eine Etappe zu gewinnen. Wenn ich mir zum Beispiel Phil Bauhaus anschaue, der zuletzt stark unterwegs war und eine gute Mannschaft dabeihat, hoffe ich, dass etwas drin ist für Deutschland. Ihm drücke ich die Daumen, Georg Zimmermann von Intermarche-Wanty, der ein starkes Team hat und vorn mitfahren kann.

Bora-Hansgrohe hat kürzlich den Einstieg von Red Bull verkündet. Mit Primoz Roglic haben sie einen Tourfavoriten unter Vertrag. Was ist ihre Strategie?

Red Bull hat sich in den letzten Jahren vom Extremsport hin zum Mainstream entwickelt, als Ausdauersportart passt Radsport nun perfekt bei ihnen rein. Beim Fußball und in der Formel 1 hat man schon gesehen: Wenn Red Bull mit dabei ist, machen sie es konsequent. Das bedeutet, dass auch für die Radsportler die Möglichkeiten aufgehen, die Red Bull hat. In den Test- und Researchzentren scouten sie Nachwuchsfahrer früh und können auch mit ihrer Marketingpower den Sport anders darstellen. Für den deutschen Radsport ist es eine gute Nachricht.

Quellen:

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