Monatelang haben sich die Kandidaten vor der Schach-WM auf ihre Gegner vorbereitet und Eröffnungen einstudiert. Die Vorbereitung von Ding Liren wurde aber möglicherweise auf einer öffentlichen Schachplattform entdeckt. Beendet das die WM-Chancen des Chinesen?

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Es sind auf den ersten Blick unscheinbare Online-Partien auf der frei zugänglichen Schachplattform "Lichess", die seit letzter Woche für Aufregung in der Schachwelt sorgen. Zwei User mit den Namen "FVitelli" und "opqrstuv" spielten dort in den Wochen vor dem Turnier insgesamt 72 Mal gegeneinander. Die kurz zuvor neu registrierten Accounts spielten ausschließlich gegen sich selbst, nie gegen andere Online-Spieler. Die Partien waren fast durchweg auf Großmeister-Niveau, mit nur wenigen Fehlern und Ungenauigkeiten. Und: Die Eröffnungsvarianten, die die beiden User spielen, entsprechen zum Teil exakt denen, mit denen auch der WM-Kandidat Ding Liren seinen Gegner Ian Nepomnjaschtschi in den ersten Partien der Weltmeisterschaft überraschen konnte.

Schach-WM: Hat Ding öffentlich im Internet trainiert?

Auch wenn das Vorgehen sehr naiv anmutet, drängt sich der Verdacht auf, dass es sich hier nicht um einen Zufall handelt. Hat sich der chinesische Großmeister hier mit seinem Sekundanten Richard Rapport auf die WM-Partien vorbereitet, frei zugänglich auf einer öffentlichen Schachplattform? "Ich weiß nicht, um welche Partien es geht", gab sich Ding auf Nachfrage der Journalisten ahnungslos. Keine gute Ausrede, denn in der Schachwelt weiß mittlerweile jeder von den vermeintlichen Leaks. Sollte der 30-Jährige in diesen Partien tatsächlich seine für die WM-Partien geplanten Eröffnungsvarianten einstudiert haben, müsste sich sein Gegner Nepomnjaschtschi in den verbleibenden Partien schließlich nur noch daran orientieren, um die perfekte Antwort auf seine Eröffnungen zu finden.

Auch viele Experten glauben, dass die Online-Partien tatsächlich Eröffnungsideen zeigen, die Ding dort mit seinem Sekundanten einstudiert hat. Er sehe "keine Chance, dass es sich nicht um Ding und Rapport handelt", urteilte Großmeister und Twitch-Streamer Hikaru Nakamura. Und die norwegische Schachspielerin Monika Machlik nannte Dings öffentlich einsehbare Wettkampfvorbereitung "dilettantisch". Schon bei früheren Turnieren war der Chinese dadurch aufgefallen, dass er im Gegensatz zu anderen Großmeistern allein zu den Kämpfen anreiste. Diese Posse scheint nun erneut zu zeigen, dass ihm ein professionell arbeitendes Team im Hintergrund fehlt.

Schach-WM: Jan Gustafsson hält Leaks für "schweren Schlag"

Die vermuteten Leaks wiegen besonders schwer, weil sie Nepomnjaschtschi genau in dem Bereich des Spiels das nötige Vorwissen verschaffen könnten, in dem Ding seinen Gegner übertrumpfen wollte. Für klassische Turnierkämpfe müssen sich die Spieler wochenlang auf die Eröffnungsvarianten ihrer Gegner vorbereiten und suchen dafür nach Eröffnungsvarianten, mit denen sie ihre Gegner auf dem falschen Fuß erwischen und zum Nachdenken und im besten Fall zu Fehlern zwingen können.

Schach-Bundestrainer Jan Gustafsson, der bei den vergangenen Weltmeisterschaften als Sekundant des amtierenden Weltmeisters Magnus Carlsen arbeitete, sieht die Eröffnungsleaks daher als "schweren Schlag" für Ding. "Insbesondere mit Weiß will man Druck machen", sagte Gustafsson dem SID. "Du arbeitest monatelang an diesen Überraschungen, die sind nicht so leicht zu finden. Wenn du dann die Hälfte der Überraschungen aus Versehen veröffentlichst, dann ist es so gut wie unmöglich, etwas Gleichwertiges an einem Tag zu finden."

Ding könnte durch Leaks Unausrechenbarkeit verloren haben

Genau damit wollte Ding bei dieser WM besonders auftrumpfen: Mit seinem Sekundanten Rapport, selbst Großmeister und aktuell auf Platz 13 der Weltrangliste, holte sich der Chinese extra einen Spieler ins Team, der für seine Kreativität am Brett bekannt ist. Die Ansage an seinen Gegner: Auf die üblichen Eröffnungsvarianten ist bei dieser WM kein Verlass. Und die Strategie von Ding und Rapport zeigte in den bisherigen Partien Erfolg: Mit dem erstmals bei einer WM gespielten London-System oder einer Abweichung in der Nimzo-Indischen Verteidigung konnte Ding Nepomnjaschtschi zumindest zeitweise vor Probleme stellen. Diese Unberechenbarkeit könnte er durch die Leaks verloren haben. Und seinem Gegner reichen mit seinem derzeitigen Vorsprung von einem Punkt auch drei Remis in den nächsten Partien, um den WM-Titel zu gewinnen, während Ding unbedingt einen Sieg braucht, um auszugleichen.

Nepomnjaschtschi selbst bestritt übrigens, dass die Leaks ihn in irgendeiner Weise betreffen. "Mein Team hat einen Blick darauf geworfen. Aber der Hype, der darum derzeit gemacht wird, ist zu groß", erklärte "Nepo" auf der Pressekonferenz nach der elften Partie und fügte hinzu: "Ich versuche einfach, meine Aufgabe zu erledigen. Diese Informationen haben daran nicht viel geändert." Ob das stimmt? Zumindest hat der 32-Jährige seit Partie acht, nach der die Leaks bekannt wurden, keine Partie mehr verloren.

Verwendete Quellen:

  • SID
  • Sport1: "Dilettantisch": Aufruhr um Schach-WM
  • Perlen vom Bodensee: Durchgesickerte Kanonenkugeln - Eröffnungsleck im Team Ding Liren
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