Jan Ullrich blickt nach zahlreichen Eskapaden und Nackenschlägen nach dem Ende seiner Laufbahn als Radsport-Held nach vorne. Dabei hilft ihm, seine bewegte Vergangenheit aufgeschrieben zu haben.
Auf den Abstecher nach Italien freut sich
"Der Radsport bestimmt nach wie vor mein Leben. Das ist meine Leidenschaft, meine große Liebe", sagt der einst so umjubelte und dann tief gefallene Tour-Champion von 1997 im Interview der Deutschen Presse-Agentur.
Jan Ullrich entsagt den Lebens-Extremen
Vor der Reise in die Toskana - die Tour startet am 29. Juni im italienischen Florenz - musste Ullrich aber erst noch mit der Vergangenheit aufräumen. In seinem am 25. Juni erschienenen Buch "Himmel, Hölle und zurück ins Leben" gibt der Rostocker tiefe Einblicke preis, nachdem er im November in einer Dokumentation bereits seine Doping-Zeit aufgearbeitet hatte. "Der Lebensrucksack ist leichter geworden", sagt Ullrich, der einräumt, dass er bei seinen Lebenskrisen "richtig, richtig tief gefallen" ist. Daraus habe er gelernt. "Das holt mich nicht mehr ein", so der frühere Radstar. Deshalb sei er sich sicher, dass er "nicht mehr die Extreme brauche", die er früher gesucht habe.
Ein Leben in Extremen wird auf 272 Seiten dokumentiert. Aufgewachsen in Papendorf bei Rostock berichtet Ullrich, wie er in seiner Kindheit von seinem Vater teils nicht beachtet ("Für ihn war ich Luft"), sogar geschlagen wurde, nachdem er ins Bett gemacht hatte, und von Selbstzweifeln heimgesucht wurde. Über den Sport und sein außerordentliches Talent erlangte Ullrich Beachtung und ein Leben mit Strukturen, das ihn schließlich bis an die Spitze, den "Radsport-Himmel", brachte.
"In einem Horrorfilm" bei Dopingarzt Eufemiano Fuentes
Toursieger, Olympiasieger, Weltmeister - Ullrich war Everybody's Darling, der Popstar auf zwei Rädern, der jedes Jahr im Juli Millionen Menschen vor dem Fernseher fesselte. Bis seine Welt zusammenbrach durch den Dopingskandal. Ihm war die Verbindung zu Dopingarzt Eufemiano Fuentes nachgewiesen worden, in Spanien hatte er Eigenbluttransfusionen durchgeführt. Das sei wie "in einem ganz, ganz falschen Horrorfilm" gewesen. "Ich fiel in ein Loch. In ein sehr, sehr tiefes Loch", schreibt Ullrich.
Der Radstar ("Ich verfiel in eine tiefe Depression") betäubte seinen Frust mit Alkohol, dann mit Kokain. Unter Alkoholeinfluss baute er einen Autounfall im Mai 2014, ging anschließend in die Entzugsklinik. Mit seiner Frau Sara wollte er auf Mallorca neu anfangen - doch es half nichts. Wieder Depressionen, wieder Alkohol - und schließlich die Trennung von Frau und Kindern. "Sara konnte nicht mehr. Sie musste sich jetzt einen Schutzpanzer um ihr Herz bauen, damit es nicht völlig zertrümmert wurde", berichtet Ullrich: "Wenn sie jetzt nicht gehen würde, würde sie zerbrechen. Das wusste sie. Und ich wusste es auch."
Barzahlung vom Bett aus
Was folgte, war der komplette Absturz. Ullrich betäubte sich mit Kokain, Wein und Whiskey. Seine Finca wurde zur "Rockstar-Hölle", wie er schreibt: "Schauspieler, Künstler, Kriminelle, Rocker, Milieu-Leute. Jeder war hier willkommen." Um seinen Kokainkonsum zu bezahlen, habe er mal eine Sporttasche voller Geld von der Bank geholt und in seinem Schlafzimmer ausgeschüttet. "Immer wenn ein Dealer kam oder ein Angestellter bezahlt werden wollte, brachte ich ihn nun in mein Schlafzimmer und sagte ihm, er solle sich einfach bedienen", so Ullrich.
Nach einem Streit mit Nachbar Til Schweiger landete er kurz im Gefängnis, was laut Ullrich einem "Kellerloch" glich. Die Wände seien mit Fäkalien beschmiert gewesen. "So etwas Widerliches hatte ich noch nie gesehen." Schließlich kehrte Ullrich zurück nach Deutschland, machte eine Entziehungskur und bekam sogar Unterstützung von seinem einstigen Widersacher Lance Armstrong ("Ich schloss ihn in die Arme"). Inzwischen lebt Ullrich wieder in Merdingen, im Schwarzwald. "Vielleicht musste ich einmal alle meine Grenzen überschreiten, nur damit ich irgendwann meine Mitte finden konnte."
Jan Ullrich begleitet die Tour de France als TV-Experte
Kapitel für Kapitel hat Ullrich sein Leben reflektiert und seine Lehren daraus gezogen. Die Aufarbeitung sei für ihn "super wichtig" gewesen, das positive Feedback der Menschen habe gut getan. Viele Brücken habe er in den vergangenen Jahren eingerissen, die es wieder aufzubauen gilt. Ullrich, der bei der Tour vereinzelt als Eurosport-Experte fungiert, ist offenbar auf einem guten Weg, auch wenn es "Kraft und Überwindung" gekostet habe.
Erst am Wochenende sprach er sich nach langer Funkstille mit Radsport-Präsident Rudolf Scharping aus. "Über mögliche gemeinsame Projekte" habe man gesprochen, berichtete der frühere Verteidigungsminister. Ullrich würde auch gerne mit den Tour-Veranstaltern, bei denen er wie Armstrong zu den unerwünschten Personen gehört, gerne Frieden schließen. "Die Zeit ist reif, dass man sagen kann: Jetzt machen wir - in Anerkennung auch der Fehler, die ich gemacht habe - einen Strich drunter. Ich bin Tour-de-France-Sieger und gehöre zur Tour-Geschichte dazu. (...) Offen für ein Gespräch zu sein, halte ich für wichtig", sagt Ullrich. Vielleicht ergibt sich ja in Italien die Gelegenheit. (dpa/hau)
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