Die deutschen Handballer haben bei Olympia das Viertelfinale als Mindestziel ausgegeben, hoffen aber natürlich auf eine Medaille. Unsere Redaktion hat sich im Vorfeld mit Ex-Weltmeister Dominik Klein über die Aussichten, die Gegner, Juri Knorr, die olympischen Besonderheiten und die Situation des deutschen Handballs unterhalten.
Herr Klein, der deutsche Handball erlebt bei Turnieren immer eine große Aufmerksamkeit. Zahlt sich das inzwischen auch an der Basis aus?
Dominik Klein: Ja, total, der Zuspruch ist riesig, Handball ist hochattraktiv. Im Bayerischen Handball-Verband zum Beispiel sind die Mitgliederzahlen auf einem Höchststand. Und da sind die Auswirkungen der Euro Anfang des Jahres noch gar nicht mit eingerechnet. Die Zuschauerzahlen bei der EM haben das nochmals bewiesen. Und die Geschichten werden ja jetzt noch zusätzlich geschrieben. Wir haben die Frauen-WM 2025, die Männer-WM 2027. Wir sind zudem voll im Lead, was die WM 2029 angeht, mit Frankreich zusammen. Und 2032 versucht der DHB, die Euro der Männer und Frauen an Land zu ziehen. Es ist Wahnsinn, was da auf uns zukommt.
Welche Rolle spielt die Nationalmannschaft dabei?
Wir können jetzt wieder das Thema Zugpferd herausholen, aber ich bin vielmehr der Meinung, dass wir die Vorbildfunktion und die Nahbarkeit - was unsere großen Stärken sind - in den Vordergrund stellen. Wir brauchen keine Vergleiche zu ziehen mit anderen Sportarten. Wir sind Handball, wir können Kabinentalk, wir können nahbar sein, wir sind in der dritten Halbzeit stark. Das steckt in jedem der aktuellen Nationalspieler und Nationalspielerinnen drin. Das macht mich nicht nur stolz, sondern ich schaue auch positiv in die Zukunft, weil wir im Handball aktiv sind und bodenständig rüberkommen.
Ist die Situation mit den anstehenden Turnieren im eigenen Land eine historische Chance?
Das Jahrzehnt des Handballs wird natürlich komplettiert, wenn wir noch einen draufsetzen können mit einem Zuschlag für die weiteren Turniere. Ich habe schon von Anfang an gesagt, als dieses Jahrzehnt des Handballs ausgerufen wurde, dass alles eine Chance für jeden einzelnen Verein ist, auch dort, wo der Handball noch nicht so einen Zulauf hat wie in anderen Regionen. Wir sind sichtbar in öffentlich-rechtlichen Medien. Die Presselandschaft ist bei Heimturnieren dermaßen voluminös, dass auch der Nachwuchs sieht: "Hey, dann lass uns mal zum Handball gehen". Oder man macht als Schule den Grundschulaktionstag, weil die Schülerinnen und Schüler Lust dazu haben, den Sport auch mal selbst auszuprobieren. Diese Chance bringt allerdings auch immer wieder Risiken mit sich, denn der Zuspruch in den Vereinen muss mit Personal, mit Trainern und mit Hallenkapazitäten bedient werden. All das sind die Herausforderungen, die es zu stemmen gilt, wenn wir dem Zuspruch gerecht werden und den Hype vorleben wollen.
An der Spitze wurden zuletzt Nägel mit Köpfen gemacht:
Richtig oder falsch – die Frage stellt sich für mich nicht. Es geht um den Handball. Dass wir den Sport weiterentwickeln. Ich sehe im Sinne des Handballs immer eine Linie, die verfolgt werden muss und die soll die Nationalmannschaft, also das Zugpferd, erfolgreich machen. Und da gibt es genug Argumente, die dafür sprechen. Manche haben sich mit Sicherheit auch dagegen ausgesprochen, aber Eitelkeiten hin oder her: Es braucht immer wieder neue Energie, um Themen voranzutreiben. Und die hat den Verantwortlichen möglicherweise bei dem einen oder anderen Thema gefehlt. Die Entscheidungen wurden getroffen, das heißt, jetzt gilt es, nach vorne zu schauen und dem Sport wieder den kompletten Fokus zu geben und nicht den handelnden Personen.
Wie sehen Sie Kromers Nachfolger Ingo Meckes?
Wir haben sogar mal gegeneinander gespielt, daher weiß ich um seine damalige Robustheit. Ich kenne ihn zudem aus dem Schweizer Verband, wo wir uns mal über den Weg gelaufen sind. Ich habe noch keine großartigen Berührungspunkte mit ihm gehabt. Ich bin gespannt, wie er die Aufgabe mit seinem Elan konkret angeht.
Die deutschen Handballer wurden bei der WM 2023 Fünfter, bei der EM jetzt war es Platz vier – wo sehen Sie den deutschen Handball gerade?
Mit Platz vier bei der EM musste man zufrieden sein, wenn man ehrlich ist. Über ein Olympia-Halbfinale wird ja im Vorfeld teilweise schon gesprochen, was viel schwieriger sein wird, weil nur zwölf Mannschaften dabei sind. Daher wird das Turnier auch wieder zeigen, wie die Entwicklung der Mannschaft aussieht und weitergeht. Da gilt es, immer wieder zu bestätigen, dass die deutsche Mannschaft noch lange nicht am Limit ist und man möglicherweise sogar noch einen draufsetzen kann.
Ist nach den Plätzen fünf und vier eine Olympia-Medaille jetzt logisch und folgerichtig?
Ich bin bei diesen Zielvorgaben immer zurückhaltend, weil ich das Spiel an sich in den Vordergrund stelle. Wenn ich merke, dass die Entwicklung der Mannschaft passt und weitergeht, dann ist das für mich schon ein zufriedenstellendes Ergebnis. Wir gehen von Perfektionismus aus und perfektionistisch heißt, weniger Fehler zu machen. Weniger Fehler zu machen heißt, ein Spiel auch öfter gewinnen zu können. Diese Entwicklung würde ich gerne in den Vordergrund stellen, weil wir bei der Heim-EM noch viel zu viele Schwächephasen gehabt haben während eines Spiels, sodass es auch knappe Entscheidungen gab. Ich würde gerne eine Konstanz sehen, eine Klarheit, ein Selbstverständnis, eine Mannschaft, die weniger Fehler macht als der Gegner und trotzdem mutig bleibt.
Glauben Sie denn, dass die Mannschaft dafür bereit ist, diesen nächsten Schritt zu machen?
Ja, total. Weil sie willig ist, das zu bestätigen, und auch willig ist, immer wieder an sich zu arbeiten. Jeder Nationalspieler, der für Olympia nominiert wird, will das ja in einer gewissen Form zurückgeben. Nicht nur für seinen Trainer, für seine Mannschaft, für sein Land, sondern für Team Deutschland, für die ganze Nation, für den Adler. Es ist ja nicht das DHB-Zeichen auf dem Trikot, sondern der Bundesadler. Das ist das Besondere an diesen Olympischen Spielen, dass du da wirklich für die Nation auftrittst und für dein ganzes Sport-Team Deutschland. Das macht nochmal mehr mit dir, es macht dich wahnsinnig stolz, mit der Mannschaft einzulaufen.
Sie waren selbst bei Olympia. Was bringt so ein Event einer Mannschaft?
Als Team bringt dir das eine absolute Geschlossenheit. Mannschaftssportler sind generell im Team Deutschland immer sehr willkommen, weil sie diesen Mannschaftsgeist besitzen und den auf die Einzelsportler übertragen. Ich kann mich erinnern, dass ich mich auf dem Weg zur Mensa mit Timo Boll ausgetauscht habe, der mir viel Glück gewünscht hat. Jeder Sportler bekommt mit, welche Entscheidungen anstehen, wer ein wichtiges Spiel hat, wer eine Medaillen-Entscheidung hat. Da entsteht ein Mannschaftsgeist. Das ist das Besondere für die Handballer: Dass sie diesen Teamgedanken schon kennen, der aber durch andere Einzelsportler und sportliche Größen, die bei Olympia sind, nochmal verstärkt wird. Es gibt auf der Tribüne Plätze, wo dann andere Spieler und Athleten aus Team Deutschland sitzen und die anderen anfeuern. Das ist schon ein geiles Gefühl, wenn die Unterstützung zu spüren ist.
Wie beurteilen Sie denn die aktuelle Form der Handballer?
Die Testspiele sind gut gelaufen, aber sie sind generell immer mit etwas Vorsicht zu genießen. Daher sollte sich das Team darauf konzentrieren, den Fokus zu behalten und im eigenen Abwehr- und Angriffsspiel eine Stabilität reinzubekommen. Es gilt einfach, auf der Basis, die sie durch die Tests geschaffen haben, aufzubauen. Keine Frage ist, dass durch die Siege das Selbstvertrauen nochmal gestärkt wurde.
Der Bundestrainer ist ja eher der verhaltene und beschwichtigende Typ, Johannes Golla meinte nach dem Frankreich-Sieg, das Halbfinale sei unter bestimmten Bedingungen drin. Welcher Ansatz ist der richtige?
Um so etwas sagen zu können, braucht es ein Gefühl der inneren Stärke, eine Art Selbstverständnis. Wenn ich an meine Spiele 2008 in Peking zurückdenke, dann ist es unfassbar schwer, in der Sechsergruppe unter die ersten Vier zu kommen. Bei mir gab es übrigens nicht viele positive sportliche Erinnerungen, wir sind ausgeschieden. Dass Deutschland gegen jeden Gegner gewinnen kann, steht außer Frage. Aber es ist bei diesem Turnier ein Zweitagesrhythmus, teilweise in einer Konstellation, in der man nicht einmal 48 Stunden zwischen den Spielen hat.
Ein bisschen Jugendturnier-Flair
Was daran liegt, dass es ein bisschen C-Jugend-Turnier-Feeling gibt mit Anwurfzeiten um neun oder elf Uhr. Kann das zu einem Problem werden?
Wir sind früher um fünf Uhr aufgestanden, damit der Rhythmus überhaupt erstmal in die Gänge kommt. Um dann um neun Uhr ein wichtiges olympisches Spiel zu absolvieren. Das sind ungewohnte Rahmenbedingungen. Aber es braucht Fokus auf allerhöchstem Niveau, eine starke Konzentrationsfähigkeit, gerade was solche Spiele angeht. Im zweiten Spiel in der Früh um neun Uhr gegen Japan zu spielen, die mit heißen Sohlen über das Parkett schwingen werden, wird ein wichtiges Spiel.
Neben Japan ist Schweden der Auftaktgegner, dazu geht es noch gegen Kroatien, Spanien und Slowenien. Wie knifflig wird das?
Das ist natürlich ein heißer Auftakt gegen die Mannschaft, gegen die man gerade erst bei der EM das Spiel um Platz drei verloren hat. Aber es wird wichtig sein, fleißig zu bleiben, den Fokus zu behalten, weil es ein wichtiges Spiel ist. Möglicherweise steht man dann im zweiten Spiel gegen Japan schon richtig unter Druck. Jeder Gegner wird ein herausfordernder, ein richtiger Gradmesser sein. Gegen Kroatien gab es bei der EM eine deutliche Niederlage. Dann kommt Spanien, gegen die es schon ein entscheidendes Spiel sein kann. Und Slowenien rechnet sich natürlich auch eine Chance aus, weiterzukommen. Ein guter Start wird wichtig sein, um dann in den weiteren Spielen darauf aufzubauen.
Die Aussage eines Kontrahenten öffnete Klein die Augen
Was muss für einen Erfolg bei Olympia alles passen?
Ich gebe eine Erinnerung weiter, die mir nach den Olympischen Spielen 2008 die Augen geöffnet hat. Daniel Narcisse von Olympiasieger Frankreich hat mir im Nachgang gesagt: "Mir war es egal, ob Usain Bolt im 100-Meter-Finale die Goldmedaille gewinnt. Wir wollten dafür sorgen, dass Usain Bolt weiß, wer Handball-Olympiasieger ist." Narcisse stand am Ende des Turniers auf dem Podium und machte die legendäre Bolt-Pose. Was ich damit sagen will, ist, dass der Fokus auf der eigenen Mannschaft, auf dem eigenen Spiel, auf dem eigenen Spielplan so wichtig ist, weil es so viele Möglichkeiten der Ablenkung gibt. Ob das andere Disziplinen sind, die man verfolgt, ob es das Olympische Dorf ist. Und ich habe gemerkt, dass ich das 2008 in der Form nicht vorgelebt bekommen habe. Dabei ist der Fokus und die Konzentration auf sich und die eigene Mannschaft ein mitentscheidender Faktor.
In welchem Bereich muss sich das Team im Vergleich zum letzten Turnier verbessern?
Die Fehlerquote muss geringer, die Angriffs- und Abschlusseffektivität deutlich klarer sein und höher ausfallen. Im Abwehrverbund waren der Einsatz und der Kampf bei der EM sensationell. Aber auch da gilt es, die Angriffsqualitäten der Gegner gut zu analysieren, um zu wissen, wo die Stärken der Gegner liegen. Die Mannschaft muss sich wieder sehr gut vorbereiten, damit sie in der Abwehr weiterhin eine gute Grundlage hat.
Gislason hat mit seinem Kader auch überrascht. Wie sehen Sie die Mischung?
Die sind alle belegt durch die Grundlage der Entscheidungen. Ich finde die Personalie Marko Grgic natürlich spannend. Das ist ein junger Spieler, der reingeworfen wird, um eine Unbekümmertheit und etwas Freches zu haben. Ansonsten ist die Wucht, die geballte Power am Kreis das Prunkstück, zusammen mit den Außen. Das große Fragezeichen ist für mich, wie konstant das Team sich im Rückraum rechts durchsetzen kann, mit Kai Häfner, Renars Uscins und Christoph Steinert. Das ist für mich die Position, die für den positivsten Überraschungseffekt gesorgt hat, weil Uscins jetzt schon so weit ist, der Nationalmannschaft auf dem Level zu helfen. Das finde ich hervorragend.
Auf diese Spieler kommt es an
Auf wen kommt es aus dem Team ganz besonders an?
Ich rede ja immer von der Achse Köster-Knorr-Golla. In der Abwehr können wir auf ein wirkliches Fundament zurückgreifen, auch auf Körperlichkeit. Im Angriff sind wir von den spielstarken Rückraumspielern abhängig. Deswegen freue ich mich immer, auch da die Entwicklung der Konstanz zu sehen, dass Juri Knorr und Julian Köster eine absolute Bank sind. Es freut mich, dass diese jungen Spieler schon so viel Verantwortung übernehmen. Ich drücke ihnen die Daumen, dass sie auch verletzungsfrei bleiben und ihren Körper gesundheitlich im Griff haben. Aber wenn wir beide als Motor im Angriff zusammen mit den Kreisläufern nehmen, können wir uns bei der wichtigen Achse auch auf Knorr-Köster-Kreisläufer festlegen.
Knorr hat ein kompliziertes Turnier hinter sich. Auch weil er der Typ ist, der sich selbst viel Druck macht und sehr selbstkritisch ist. Was müsste er ändern, damit er den nächsten Schritt machen kann, um die hohen Erwartungen zu erfüllen, auch die Erwartungen an sich selbst?
Ich finde auch, dass er sehr selbstkritisch durchs Leben geht. Manchmal zu selbstkritisch. Doch diese Auseinandersetzung wird ihm wieder dabei helfen, damit besser umgehen zu können. Heißt: Das verarbeitet und die nächste Aufgabe vor sich zu haben, wird ihm mit Sicherheit helfen, dass er bei seinem Auftritt wieder an eigenen Stellschrauben drehen kann. Daher hoffe ich, dass er dieses Selbstbewusstsein, das er hat, beibehalten kann. Und dafür diese Energiefresser aufweichen kann, um die Energie für sein Spiel zu haben.
Das offizielle Ziel für Olympia lautet Viertelfinale. Wie lautet Ihre Prognose?
Konkrete Prognosen gebe ich ungerne ab. Ich wäre glücklich, wenn Deutschland ins Viertelfinale kommt, weil das unser Anspruch ist. In die K.-o.-Phase zu kommen, wäre einfach ein richtig guter Schritt, um die Entwicklung und das Potenzial zu bestätigen. Dann ist es offen, was noch obendrauf kommt. Und wenn sie die Gruppenphase überstanden haben, gebe ich gerne noch einmal eine konkretere Prognose ab (lacht).
Über den Gesprächspartner:
- Dominik Klein gewann mit der deutschen Nationalmannschaft 2007 den WM-Titel, auf Vereinsebene wurde der Linksaußen mit dem THW Kiel unter anderem acht Mal Meister, sechs Mal Pokalsieger und drei Mal Champions-League-Sieger. Heute ist der 40-Jährige unter anderem als Handball-Experte in der ARD tätig.
"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.