Bei den Olympischen Spielen in Paris präsentieren sich die Vertreter Nordkoreas weltoffen und herzlich. Dahinter steckt Kalkül, die neueste Charmeoffensive hat einen politischen Hintergrund.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Michael Schleicher sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Nordkorea sorgte gleich zu Beginn der Olympischen Spiele in Paris für Schlagzeilen – allerdings eher indirekt und unfreiwillig. Bei der feierlichen Eröffnungszeremonie wurde die Delegation Südkoreas fälschlicherweise mit dem Ländernamen "Demokratische Volksrepublik Korea", der offiziellen Bezeichnung Nordkoreas, vorgestellt.

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Der anschließende Aufschrei war riesig. IOC-Präsident Thomas Bach sah sich sogar in der Pflicht, sich beim südkoreanischen Präsidenten Yoon Suk Yeol für den heiklen Fauxpas zu entschuldigen.

Nordkoreas Olympia-Comeback nach sechs Jahren

Verwechslungen dieser Art hätte es bei den beiden vergangenen Spielen nicht geben können: Während der Corona-Pandemie schickte die autoritäre Regierung Nordkoreas 2021 keine Sportlerinnen und Sportler nach Tokio – als einziges Land. Die Strafe des IOC: Nordkoreas Olympisches Komitee wurde bis Ende 2022 aus der olympischen Gemeinschaft ausgeschlossen, in der Folge nahmen auch keine nordkoreanischen Athletinnen und Athleten an den Winterspielen 2022 in Peking teil.

Nach sechsjähriger Abstinenz ist Nordkorea in Paris nun also wieder auf der olympischen Bühne vertreten, 16 Sportlerinnen und Sportler nahmen und nehmen an den Wettbewerben teil. Und es macht den Anschein, als wolle sich das wohl am meisten abgeschottete Land der Welt dem Millionenpublikum vor Ort und vor den Fernsehbildschirmen besonders offen und verhältnismäßig herzlich präsentieren.

Nordkoreas Charmeoffensive ist nicht komplett neu

Eine Szene, die die Charmeoffensive Nordkoreas verdeutlicht, ereignete sich am 3. August beim Sprung-Wettbewerb der Turnerinnen in der Bercy-Arena. Denn obwohl sie nur auf dem undankbaren vierten Platz landete, lächelte und winkte die Nordkoreanerin An Chang-ok fröhlich und gut gelaunt in die Kameras.

Die 21-Jährige freute sich sichtlich für ihre Kontrahentinnen – allen voran Olympiasiegerin Simone Biles aus den USA. Doch auch mit der Siebtplatzierten, Yeo Seo-jeong aus Südkorea, interagierte sie während des Wettbewerbs teilweise. Und das, obwohl Nordkorea den Nachbarn aus dem Süden sowie die USA bekanntermaßen als größte Feinde überhaupt betrachtet. Erst im vergangenen Januar hatte Nordkoreas Machthaber Kim Jong-un Südkorea als "Hauptfeind" bezeichnet, im Februar brach Nordkorea dann jegliche Wirtschaftsbeziehungen zu Südkorea ab.

Die Charmeoffensive Nordkoreas ist allerdings nicht gänzlich neu. Bereits bei der Eröffnungsfeier der Sommerspiele 2000 in Sydney liefen die Delegationen Nord- und Südkoreas gemeinsam ins Stadion ein, traten anschließend aber getrennt an. 2018 schrieben sie dann allerdings Geschichte: Bei den Winterspielen im südkoreanischen Pyeongchang traten die Eishockey-Frauen gemeinsam unter dem Namen "Korea" an.

Experte: Nordkoreanische Athleten sollen "Sportdiplomatie" betreiben

Wovon man bei den aktuellen Spielen in Paris ausgehen darf: Keine Aktion, keine Handlung, keine Aussage der Athletinnen und Athleten vor Ort erfolgt ohne vorherige Ab- und Zustimmung. Dafür sollen auch spezielle Aufsichtspersonen sorgen, die die Sportlerinnen und Sportler vor Ort ständig begleiten und im Auge haben.

Die Protagonisten in Paris haben laut Ramon Pacheco Pardo, Professor für Internationale Beziehungen am King's College in London, vor allem eine Aufgabe: Sie sollen "Sportdiplomatie" betreiben und der Welt deutlich machen, dass das Land normal sei. Die Athletinnen und Athleten seien einige der "wenigen Personen in Nordkorea, die von der Außenwelt nicht misstrauisch betrachtet werden", erklärte Pardo gegenüber der BBC.

Korea-Selfie geht viral

Was während der Spiele ebenfalls reichlich Aufsehen erregte: das Selfie von süd- und nordkoreanischen sowie chinesischen Athletinnen und Athleten auf dem Siegerpodest nach dem Mixed-Wettbewerb im Tischtennis. Das Foto, das innerhalb kürzester Zeit viral gegangen ist, wurde als große Annäherung der erbitterten Erzfeinde gefeiert.

Was allerdings auch zur Wahrheit gehört – ganz neu ist die Idee nicht: Bereits 2016, bei den Sommerspielen in Rio, gab es ein gemeinsames Selfie sowie weitere Fotos der südkoreanischen Turnerin Lee Eun-ju und ihrer Konkurrentin Hong Un-jong aus Nordkorea.

Gemeinsames Foto von Turnerinnen aus Südkorea und Nordkorea
Die südkoreanische Turnerin Lee Eun-ju (r.) und Hong Un-jong aus Nordkorea posieren bei den Sommerspielen 2016 in Rio für ein gemeinsames Foto. © picture alliance/AP Photo

Der Unterschied zum neuesten Korea-Foto in Paris: Komplett freiwillig war es möglicherweise nicht. Denn das sogenannte "Victory Selfie" wird nach jeder Siegerehrung gemacht, es ist ein fester und offizieller Bestandteil. Wie das IOC mitteilt, soll es den "krönenden Moment" auf dem Siegertreppchen festhalten. Geknipst wird das Selfie allerdings nicht mit einem privaten Handy, sondern mit einer speziellen Olympia-Edition des "Galaxy Z Flip6" von Olympia-Partner Samsung. Ganz nebenbei betreibt die Organisation also Produktplatzierung auf höchstem Niveau.

"Das ist die Richtung, in die wir gehen wollen", sagte Anne-Sophie Voumard, Geschäftsführerin für Fernsehen und Marketing beim IOC, laut sid am Mittwoch: "Wir wollen wirklich einzigartig in dem Sinne bleiben, dass es keine Werbesichtbarkeit auf dem Spielfeld gibt. Aber wir wollen unseren Partnern die Möglichkeit geben, ihre Produkte so organisch wie möglich in die Durchführung der Spiele zu integrieren."

Also Werbung ohne Werbebande, sondern durch Product Placement – und irgendwie auch zum Nutzen der Sportler. "Die Athleten dürfen keine persönlichen Gegenstände oder Telefone mit auf das Spielfeld nehmen", erklärte Voumard, "durch unsere Partnerschaft mit Samsung können wir diesen einzigartigen Moment aber für sie festhalten".

Dieses Selfie bei den Spielen in Paris ging um die Welt.
Dieses Selfie bei den Spielen in Paris ging um die Welt. © AFP/JUNG YEON-JE

Gibt es eine Strafe für medaillenlose Athleten aus Nordkorea?

Dass das Team aus Nordkorea dem Selfie zustimmte, war laut Pardo allerdings auch "eine Botschaft" der heimischen Regierung. Er geht davon aus, dass die Aktion mit deren Einverständnis erfolgte. "Nordkorea will damit zeigen, dass es kein Problem mit der südkoreanischen Bevölkerung hat, sondern dass es ein Problem mit der südkoreanischen Regierung hat", sagte Pardo dem britischen Sender.

Doch um in den Genuss des "Victory Selfies" zu kommen, müssen die Olympia-Teilnehmerinnen und -teilnehmer natürlich erst einmal eine Medaille gewinnen. Nordkorea gelang das bei den Spielen in Paris bislang fünfmal. Neben der besagten Silbermedaille im Tischtennis gab es noch eine weitere im Wasserspringen sowie drei Bronzemedaillen (Wasserspringen, Ringen, Boxen).

Experten gehen der BBC zufolge nicht davon aus, dass Athletinnen und Athleten schwer bestraft werden, sollten sie ohne Medaille nach Hause zurückkehren. Dennoch könnte es "anstrengende Nachbesprechungen" und "Selbstkritik"-Sitzungen geben, wie es im Bericht heißt. Was genau in diesen Sitzungen passiert, ist aufgrund der Verschlossenheit des asiatischen Landes weitestgehend unklar.

"Die nordkoreanische Partei ist gegenüber den Verlierern nicht gerade großzügig.

Die gebürtige Nordkoreanerin Kang Ji-Hyun im Deutschlandfunk

"Der große Nachteil, wenn man keine Medaille gewinnt, ist nicht so sehr die Strafe, sondern vielmehr, dass man nicht alle Vorteile erhält, die man hätte gewinnen können", sagt John Everard, der von 2006 bis 2008 Botschafter Großbritanniens in Nordkorea war. So könne siegreichen Sportlerinnen und Sportlern beispielsweise ein höherer Status in der Gesellschaft zuteilwerden, manch andere bekommen Geschenke wie ein neues Haus.

Die gebürtige Nordkoreanerin Kang Ji-Hyun, die vor rund eineinhalb Jahren nach Südkorea geflohen ist, sieht das anders. "Wenn die Sportler aus dem Norden keinen Erfolg haben, verlieren sie vielleicht ihren Job als Athlet und werden von der nordkoreanischen Partei bestraft, weil sie verloren haben", erklärt sie gegenüber dem "Deutschlandfunk": "Die nordkoreanische Partei ist gegenüber den Verlierern nicht gerade großzügig. Nur die nordkoreanischen Athleten, die siegen, werden zu Helden gemacht."

Eines jedenfalls ist klar: Fast alles, was hinter den Kulissen des verschlossenen Staates passiert, wird auch weiterhin ein Geheimnis bleiben. Da nützt auch die neueste Charmeoffensive Nordkoreas bei den Olympischen Spielen in Paris nichts.

Verwendete Quellen

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