Auf dem offiziellen Tiktok-Account der Paralympics sind auch immer wieder Videos zu sehen, die Athletinnen und Athleten bei Missgeschicken zeigen. Darf man sich in dieser Form über Menschen mit körperlicher oder geistiger Behinderung lustig machen? Wir haben mit einer Athletin gesprochen, die in einem der Clips vorkommt.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Michael Schleicher sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Nach den Olympischen Spielen finden traditionsgemäß die Paralympics statt, bei denen Athletinnen und Athleten, die eine körperliche oder geistige Behinderung haben, um Medaillen kämpfen.

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Tiktok-Videos, die auf dem offiziellen Paralympics-Kanal gepostet wurden, sorgen für Gesprächsstoff in den sozialen Medien. Denn neben Clips, die beeindruckende Leistungen der Sportlerinnen und Sportler zeigen, sind auch Videos zu sehen, bei denen ihnen Missgeschicke passieren. Häufig sind die Videos mit bekannten Sprüchen oder Soundeffekten unterlegt.

Ein Beispiel: Ein kurzes Video zeigt die deutschen Rollstuhlbasketballerin Mareike Miller bei den Olympischen Spielen 2021 in Tokio. Im Clip ist zu sehen, wie Miller zunächst beeindruckend aus der Distanz trifft. Nach einem kurzen Schnitt wird gezeigt, wie die 33-Jährige versehentlich über den Ball fährt und mit ihrem Rollstuhl stürzt.

Nur wenige Tage zuvor posteten die Verantwortlichen ein Video des US-Schwimmers Brad Snyder, das ihn beim Triathlon zeigt. Der 40-Jährige hatte sein Augenlicht verloren, als er im Dienst der Navy in Afghanistan im Einsatz war und er bei einer Explosion verletzt wurde. Seitdem ist Snyder komplett blind.

Im Clip sucht er im Rahmen des Triathlons sein Fahrrad, streckt dabei beide Arme nach vorne, um nach dem Rad zu tasten. Überschrieben ist das Video mit folgendem Text: "Para Triathlon is swim, bike and air piano" (dt. "Para Triathlon ist Schwimmen, Radfahren und Luft-Klavier"). Untermalt ist das Video mit klassischer Musik von Beethoven.

Brad Snyder (l.) und sein Guide beim Triathlon in Tokio.
Brad Snyder (l.) und sein Guide beim Triathlon in Tokio. © imago images/AFLOSPORT/Naoki Morita

Unterschiedliche Meinungen in den Video-Kommentaren

Sind Social-Media-Clips, in denen sich über Missgeschicke behinderter Athletinnen und Athleten lustig gemacht wird, amüsant und in Ordnung oder doch eher völlig unangebracht? Dazu gibt es unterschiedliche Meinungen – auch in den Kommentaren unter den Videos.

"Auf Social Media gehören solche selbstironischen Kurzvideos irgendwie dazu", erklärt Rollstuhlbasketballerin Miller auf Nachfrage unserer Redaktion. Als der Ausschnitt zum ersten Mal kurz nach den Paralympischen Spielen in Tokio gepostet wurde, fand sie ihn laut eigener Aussage auch ganz witzig. "Warum es Jahre später identisch wieder auf den Plattformen auftaucht, als ob es neu wäre, habe ich allerdings nicht verstanden", sagt die 33-Jährige, die bei den Paralympischen Spielen 2012 mit ihrem Team Gold und 2016 Silber holte.

"Ob ausgerechnet der offizielle IPC-Kanal Videos zeigen muss, in denen sich Sportlerinnen und Sportler ungeschickt anstellen, steht auf einem anderen Blatt."

Rollstuhlbasketballerin Mareike Miller

Miller zog sich als Teenagerin mehrere Kreuzbandrisse zu, aufgrund ihrer irreparablen Knieschäden galt sie bereits vor ihrer Volljährigkeit als Sportinvalidin. Seitdem ist sie im Rollstuhlbasketball aktiv. Im Alltag ist sie jedoch nicht auf den Rollstuhl angewiesen.

Der Parasport erfüllt Miller zufolge eine Vorbildfunktion, da er viel Aufklärungsarbeit gegen die Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen leiste. Dennoch sagt sie: "Ob ausgerechnet der offizielle IPC-Kanal Videos zeigen muss, in denen sich Sportlerinnen und Sportler ungeschickt anstellen, steht auf einem anderen Blatt."

Für Miller ist es ein schmaler Grat zwischen "humorvollem Umgang und unangebrachtem Veralbern" – es sei ein sensibles Thema, bei dem es mehrere verschiedene Blickwinkel und Meinungen gebe. "Aus diesem Grunde halte ich es in jedem Fall für angemessen und wünschenswert, wenn vorab kurz mit den betroffenen Athletinnen und Athleten gesprochen werden würde. In meinem Fall wurde dies nicht getan."

"Man muss natürlich aufpassen, dass man den Parasport nicht ins Lächerliche zieht, aber da trauen wir dem Weltverband für paralympischen Sport das passende Fingerspitzengefühl zu."

DBS-Sprecherin Markéta Marzoli

Dem Deutschen Behindertensportverband (DBS) und Nationalen Paralympischen Komitee war das Format auf dem Tiktok-Kanal bislang nicht bekannt, wie Sprecherin Markéta Marzoli auf Anfrage unserer Redaktion mitteilt.

In aller Regel seien Paraathletinnen und - athleten "mit einem besonderen Humor ausgestattet", erklärt Marzoli. In Bezug auf die Videos stellt sie aber klar: "Man muss natürlich aufpassen, dass man den Parasport nicht ins Lächerliche zieht, aber da trauen wir dem Weltverband für paralympischen Sport das passende Fingerspitzengefühl zu."

Der DBS-Sprecherin zufolge sensibilisieren die Clips auch für verschiedene Beeinträchtigungen im Sport, wobei gleichzeitig die "beeindruckenden Leistungen, die Menschen mit Behinderungen im Spitzensport zeigen" nicht geschmälert werden. In Marolis Augen bietet der Tiktok-Kanal einen guten Mix an: einerseits mit unterhaltenden Videos zum Schmunzeln, andererseits mit Videos, die "die unglaublichen Fähigkeiten von Sportlerinnen und Sportlern mit Behinderungen präsentieren".

So reagiert das Internationale Paralympische Komitee

Die Verantwortlichen des Tiktok-Kanals verfolgen mit dem Posten der Videos keine böse Absicht. Das geht aus einem ausführlichen Statement auf Anfrage unserer Redaktion hervor: Ziel der Inhalte sei es, neben den "fantastischen sportlichen Fähigkeiten und Erfolgen" der Sportlerinnen und Sportler auch Themen hervorzuheben, die "Nischen bedienen und einzigartig im paralympischen Sport sind", wie IPC-Sprecher Craig Spence erklärt. Es solle gezeigt werden, dass "von Zeit zu Zeit Pannen passieren" – wie in jeder anderen Sportart auch.

Den Machern sei die Einzigartigkeit der Social-Media-Plattform Tiktok bewusst, die vor allem eine jüngere Zielgruppe anspricht: Um ebendiese anzulocken, "mussten wir uns von den traditionellen Sportinhalten verabschieden, die wir für unsere anderen sozialen Kanäle erstellen". Etwas seltsam mutet es da allerdings an, dass die Clips laut Miller durchaus auch auf Instagram gepostet werden.

"Der Account spricht jüngere Fans positiv über die Kraft des Parasports als Instrument zur Förderung der sozialen Integration an."

IPC-Sprecher Craig Spence

Spence zufolge verfolgt der Tiktok-Kanal mit seinen teils humoristisch angehauchten Videos vor allem ein Ziel: Das Interesse am paralympischen Sport und allgemeinen Themen, die Behinderungen betreffen, soll geweckt und gesteigert werden - vor allem bei den jüngeren Menschen. "Der Account spricht jüngere Fans positiv über die Kraft des Parasports als Instrument zur Förderung der sozialen Integration an."

Zudem betont der Sprecher, dass der Kanal mittlerweile "einer der beliebtesten und aktivsten Tiktok-Accounts im Weltsport" sei. Seit der Einführung 2020 gab es demnach mehr als 1,8 Milliarden Videoaufrufe, 4,2 Millionen Menschen sind Follower.

Auch die Mehrheit der Paraathletinnen und -athleten hätte positiv auf den Kanal und die Videos reagiert. Viele hätten die Clips auch auf ihren eigenen Social-Media-Kanälen geteilt. Beispielsweise auch besagter Brad Snyder, der das Beethoven-Video auf seinem Instagram-Kanal postete und den Kanal und deren Inhalte dem IPC-Sprecher zufolge "voll und ganz unterstützt".

"Manchmal machen wir es nicht immer richtig, aber das Team ist immer bereit, zuzuhören und aus dem Feedback zu lernen."

IPC-Sprecher Craig Spence

Gleichzeitig sind sich die Verantwortlichen bewusst, dass die Inhalte nicht bei jedem ausnahmslos gut ankommen werden. So etwas passiere, wenn man versuche, "ein globales Publikum anzusprechen und zu begeistern". "Manchmal machen wir es nicht immer richtig, aber das Team ist immer bereit, zuzuhören und aus dem Feedback zu lernen", heißt es weiter.

Alles also halb so wild? Womöglich. Für die Paralympischen Spiele 2024 in Paris hat das Social-Media-Team des IPC jedenfalls einiges vor: "Die Paralympischen Spiele 2024 in Paris sind die größte Plattform der Welt, um Menschen mit Behinderungen in den Mittelpunkt zu stellen. Wir haben große Pläne für die Paralympischen Spiele und freuen uns darauf, unsere Pläne in den kommenden Wochen und Monaten mit TikTok in die Tat umzusetzen."

Verwendete Quellen

Zur Person

  • Mareike Miller (Jahrgang 1990) ist eine deutsche Rollstuhlbasketballerin. Bei den Paralympischen Spielen 2012 in London gewann sie mit dem deutschen Rollstuhlbasketball-Team Gold, vier Jahre später in Rio gewann sie Silber.
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