Marcel Hirscher schien für seine Konkurrenz angreifbar zu sein nach seiner schweren Verletzung - und fährt jetzt doch in der Form seines Lebens. Eine nicht gekannte Lockerheit ist dabei der Schlüssel zum Erfolg.
Es scheint eine Kleinigkeit, aber sie sagt doch einiges aus über
Hirscher zieht es vor, in Kitzbühel selbst zu residieren, mittendrin und unter den Abfahrern - und um die geht es schließlich, wenn der Zirkus am Hahnenkamm Halt macht. Die Abfahrer stehen im Fokus, sie müssen die Streif bezwingen - und der Schnellste unter ihnen wird für immer unsterblich sein.
Der Rausch der Geschwindigkeit, die Stars und Sternchen auf den Rängen, das Flair: Alles konzentriert sich auf den Samstag, er ist der hohe Renntag, der Hauptgang. Der Slalom am Ganslernhang firmiert als Dessert, als schnelle Nachspeise. Aber dieses Jahr wird alles anders.
Marcel Hirscher - schier unglaublich
Die Fans freuen sich diebisch auf das Rennen der "Zickzackfahrer", wie die Techniker im Mekka der Speed-Disziplinen verächtlich genannt werden, weil Hirscher eine ganze Nation elektrisiert.
Spätestens mit seinem Sieg in Wengen erweckt Hirscher den Anschein, er sei in der Form seines Lebens. Nun hat der 28-Jährige schon einige Winter dominiert, aber die Leistungen während der Olympia-Saison sind schier unglaublich.
Locker und befreit
"Marcel fährt auf einem Niveau, auf dem er - glaube ich - fast noch nie war. Er fährt locker befreit drauf los. Er hat nicht den Druck, an Punkte denken zu müssen, denn er hat nach der Verletzung klar gesagt, der Gesamtweltcup ist nicht das Ziel", erklärt ÖSV-Herren-Rennsportleiter Andreas Puelacher die Leistungsexplosion.
Saison für Saison hat Hirscher Angriffe zahlloser Fahrer abgewehrt, er hat den technischen Errungenschaften getrotzt und auch dann gesiegt, wenn er nicht unbedingt das beste Material hatte. Er hat sich auf neue Techniken eingelassen und sich anpassungsfähig genug gezeigt.
Aber in diesen Tagen hat er noch mehr zu bieten als "nur" die typischen Hirscher-Momente. Einen "Reaktor auf Skiern" hat ihn neulich ein Beobachter genannt. Das kommt der Wucht und Explosivität, mit der er durch die Stangen fliegt, schon ziemlich nahe.
Ein Kraftpaket und ein Trainingsbesessener war der Salzburger ja schon immer. "Es wird trainiert, trainiert, trainiert und wenn ich müde bin, leg ich mich nieder", sagt er selbst.
Stressiger Job in Hirschers Team
Was er von sich selbst fordert, fordert er auch von anderen. Ein Job in Hirschers Serviceteam dürfte so ziemlich der stressigste im Weltcupzirkus sein. Bis zu 70 Paar Skier probiert er pro Saison und Disziplin aus. Manche davon nur für eine Fahrt. "Im schlimmsten Fall ist es dann so, dass ich nur einmal runterfahre und dann sage, das Tuning passt mir nicht", sagte Hirscher dem Magazin "Red Bulletin".
Dann waren zehn Stunden Präparation quasi umsonst. Sein Trainingsplan im Sommer ist längst legendär. Neben den üblichen Kraft- und Konditionseinheiten fährt Hischer unter anderem auch Motocross und Speedway.
Die Verletzung als Initialzündung
In diesem Sommer hat aber ausgerechnet der größte Rückschlag seiner Karriere dem ohnehin schon überragenden Gesamtpaket eine ganz neue Seite zugefügt.
Mitte August hatte Hirscher am Mölltaler Gletscher seinen ersten Schneetag überhaupt, die Vorbereitung sollte gerade erst richtig losgehen, da sorgte ein handelsüblicher Einfädler für die Schockdiagnose: Knöchelbruch am linken Fuß, mehrere Wochen Gips.
In den Tagen danach hat sich Hirscher mental vom Gesamtweltcup verabschiedet. Plötzlich war dieser enorme Druck weg, immer sofort funktionieren zu müssen.
"Durch die Verletzung gibt es neue Erwartungen, endlich normale Erwartungen. Es gibt wieder die Möglichkeit, dass es einen Erfolg gibt, der nicht selbstverständlich ist. Ich darf einmal Dreißigster werden. Nicht dass ich’s will, aber ich darf", sagte er im Herbst.
Die Angst vor Ausfällen hat sich minimiert, Hirscher fährt jetzt wieder mehr "wilde Sau", er riskiert, er attackiert. Und in den technischen Disziplinen kann es aus Sicht der zermürbten Konkurrenz nichts Schlimmeres geben, als einen angriffslustigen, entfesselten Hirscher.
Dann ist er unschlagbar, weil er einfach der beste Skifahrer unter diesen vielen herausragenden Skifahrern ist. Körperlich ist Hirscher immer noch das Maß aller Dinge und mit einer nun schon über Wochen konservierten Lockerheit unantastbar.
"Das bisserl mehr Abstand über den Sommer hinweg, auch wenn es in der Reha stressig war, haben die Freude und das Feuer wieder zurück gebracht. Das ist das Schöne", sagt Hirscher selbst.
Außer an jenem Tag, an dem er sich den Knöchel brach, habe er in sieben Monaten keinen Schneekontakt gehabt. Früher ist Hirscher in keinen Weltcupwinter gegangen ohne mindestens 30 Skitage gehabt zu haben.
Der Maier-Rekord wird fallen
Jetzt hat er acht seiner letzten elf Rennen gewonnen, darunter fünf Siege im Slalom am Stück. In Kitzbühel oder wenige Tage später auf der Planai in Schladming kann Hirscher den Rekord von Hermann Maier einstellen oder sogar überflügeln.
Maier hat offiziell 54 Weltcupsiege, Hirscher steht derzeit bei 53. Längst ist es nicht mehr die Frage, ob Hirscher den Terminator einholen wird - sondern wann.
Und so lange sein Team zusammenbleibt, Trainer Michael Pircher, sein Vater, Antreiber und Motivator Ferdinand Hirscher und die Servicemänner Thomas Graggaber und Johann Strobl, so lange wird die Konkurrenz auch nicht vor ihm sicher sein.
Der Superstar des Skisports, dieser beste Einzelkämpfer im Weltcup ist am Ende nämlich auch nichts anderes als ein begnadeter Teamplayer.
"Der wirkliche Chef ist nicht die Person Marcel Hirscher, sondern die Mission Marcel Hirscher. Und in dieser Mission bin ich selber nur einer im Team, der mitarbeitet. Und wenn sich einer für den leichteren Weg entscheidet, ist das Verrat am Team. Das gilt in kleinen Sachen genauso wie in großen", sagt Hirscher - und es klingt wie eine Mischung aus Erkenntnis und Drohung.
Mit diesem Geist wird es nur einen geben, der Hirscher schlagen kann, und das ist Hirscher selbst. Derzeit erscheint jedenfalls nur ein Rücktritt als einzig probates Mittel, seine Dominanz zu beenden.
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