Adut ist zu schwach, um alleine zu stehen oder zu laufen, nach einer Malaria-Infektion ist das 14 Monate alte Mädchen müde und schwach. Als ihre Mutter Angelina sie in ein Ernährungszentrum im Südsudan bringt, ist sofort klar: Adut ist lebensbedrohlich mangelernährt. Allein im Südsudan kämpfen derzeit nach UNICEF-Schätzung über 250.000 schwer akut mangelernährte Kinder ums Überleben.
Auch in anderen Ländern wie in Somalia, im Jemen oder der Zentralafrikanischen Republik hungern Hunderttausende Menschen. Bilder von ausgemergelten Kindern, Berichte von qualvoll verhungerten Mädchen und Jungen sind immer wieder in den Nachrichten oder auf Social Media.
Trotzdem gibt es offiziell momentan in keinem Land der Welt eine Hungersnot – warum? Um das zu verstehen, muss man zunächst mal die Begriffe erklären.
Wann spricht man von einer Hungersnot?
Im Alltag sprechen wir von "Hungersnot“, wenn in einer Region viele Menschen nichts mehr zu essen haben. Aber offiziell wird eine Hungersnot von den Vereinten Nationen oder der jeweiligen Regierung eines Landes nach bestimmten Kriterien erklärt.
Grundlage hierfür ist die Einschätzung einer internationalen Arbeitsgruppe nach den sogenannten "IPC-Phasen“, die hierfür umfangreiche Daten erhebt. IPC steht für "Integrated Food Security Phase Classification“. Auf dieser Skala für Ernährungssicherheit werden fünf Stufen unterschieden, die von Phase eins "Minimal“ über "Strapaziert“ (Englisch: Stressed), "Krise“ (Crisis), "Notsituation“ (Emergency) bis hin zu Phase fünf "Hungersnot“ (Famine) reichen.
Bei Phase fünf – Hungersnot – fehlen mindestens jedem fünften Haushalt nahezu vollständig Lebensmittel und / oder andere lebenswichtige Dinge wie Trinkwasser. Zahlreiche Menschen hungern und sterben (mindestens zwei Menschen pro 100.000 Einwohner jeden Tag). Zu den Kriterien gehört auch, dass mehr als 30 Prozent der Kinder unter fünf Jahren an akuter Mangelernährung leiden.
Das klingt jetzt sehr technisch und das ist es auch, aber dafür gibt es Gründe: Auf diese Weise soll es objektive Kriterien geben, die international vergleichbar sind, und damit niemand die Erklärung einer Hungersnot zum Beispiel für politische Zwecke nutzt. Die Schwierigkeit besteht allerdings darin, in einem Bürgerkriegsland wie Jemen an verlässliche Informationen aus allen Regionen zu kommen.
Auch ohne dass offiziell eine Hungersnot erklärt wird, sind deshalb Kinder in großer Gefahr: Zahlreiche Mädchen und Jungen sterben jeden Tag, weil ihr Körper keine Widerstandskraft mehr hat. Andere tragen durch Mangelernährung dauerhafte Schäden davon und bleiben in ihrer Entwicklung zurück.
Leider ist es aber häufig so, dass eine Krise erst mit der Erklärung einer Hungersnot die nötige Aufmerksamkeit von Regierungen, Medien und Spendern bekommt – wenn es für viele Kinder schon zu spät ist. Bei der verheerenden Hungerkrise in Somalia 2011 starb etwa die Hälfte der Kinder schon vor der offiziellen Erklärung der Hungersnot. Dabei gibt es Mittel und Wege, diese Kinder zu retten.
Wann gilt ein Kind als mangelernährt?
Generell unterscheiden Ernährungsexperten zwischen chronischer (langfristiger) und akuter Mangelernährung.
Als akut mangelernährt gelten Kinder, deren Körpergewicht unter 80 Prozent des für ihr Alter angemessenen Gewichts liegt. Beträgt das Gewicht weniger als 70 Prozent, spricht man von schwerer akuter Mangelernährung.
Ursache von Mangelernährung ist chronischer Mangel an Nahrungsmitteln, aber auch an Vitaminen und lebenswichtigen Spurenelementen. Mangelernährung hat weit reichende Folgen. Da die Verdauung beeinträchtigt wird, können die Kinder nicht mehr normal essen. Die Nahrung wird nicht richtig vom Körper aufgenommen. Dadurch werden die Kinder ab einem gewissen Punkt immer schwächer. Mangelernährte Kinder sind anfälliger für Krankheiten wie Durchfall, Masern und Lungenentzündung.
Häufiges Kranksein wiederum zehrt ihren Körper weiter aus – ein Teufelskreis. Das Risiko, dass ein schwer mangelernährtes Kind stirbt, ist neunmal so hoch wie bei einem gesunden Kind.
Auch "moderate“, chronische Mangelernährung kann schwere Folgen haben: Wenn ihnen dauerhaft wichtige Nährstoffe fehlen, können die Kinder sich nicht richtig entwickeln und werden in ihrer gesamten geistigen und körperlichen Entwicklung geschädigt.
Wie viele Kinder weltweit leiden Hunger?
Nach aktuellen Schätzungen der Vereinten Nationen hatten 2018 rund 820 Millionen Menschen weltweit nicht genug zu essen – das ist jeder neunte. Fast 50 Millionen Kinder unter fünf Jahren (über sieben Prozent) sind ausgezehrt (Englisch: "wasted"), also zu leicht für ihre Körpergröße. Fast 150 Millionen Mädchen und Jungen zusätzlich sind wegen chronischer Mangelernährung unterentwickelt ("stunted"), also zu klein für ihr Alter.
Gleichzeitig nimmt weltweit die Zahl der übergewichtigen Kinder zu: 2018 waren 40 Millionen Kinder unter fünf Jahren übergewichtig. Auch Übergewicht ist übrigens eine Folge von Fehlernährung und hat negative Auswirkungen auf die Entwicklung eines Kindes.
Warum gibt es Hunger – immer noch?
Diese Frage stelle ich mir oft. Die Weltgemeinschaft hat sich schon lange vorgenommen, extreme Armut und Hunger zu beenden, aber in den letzten Jahren hat die Zahl der Hungernden sogar wieder zugenommen. Wie kann es sein, dass wir trotz aller Fortschritte und Technologien es immer noch nicht geschafft haben, dieses grundlegende Recht auf Nahrung und auf Überleben für alle Menschen zu sichern?
Armut ist sowohl die Ursache als auch die Folge von Hunger und anderen Formen der Mangelernährung. Mit anderen Worten: Arme Kinder leiden häufiger unter Hunger beziehungsweise sind schlecht ernährt und dadurch unterentwickelt (oder übergewichtig).
Mangelernährte Kinder wiederum haben ein hohes Risiko, zu sterben oder in ihrer körperlichen und geistigen Entwicklung zurückzubleiben, was im späteren Leben nicht mehr aufgeholt werden kann. Sie haben dadurch auch schlechtere Chancen, zum Beispiel eine gut bezahlte Arbeit zu finden und vererben ihre Armut in die nächste Generation.
Nur wenn es gelingt, diesen Kreislauf zu durchbrechen, kann Hunger so bald wie möglich der Vergangenheit angehören.
Was sind die Ursachen einer Hungersnot?
Die Ursachen einer Hungersnot oder Hungerkrise sind sehr komplex, das heißt, es kommen oft mehrere Faktoren zusammen. Dürren, Überschwemmungen oder Naturkatastrophen wie Erdbeben und Taifune führen zu Missernten und zum massenhaften Sterben von Vieh. Damit werden die Einkommens- und Ernährungsgrundlagen vieler Menschen zerstört.
In einem Bürgerkrieg oder bewaffneten Konflikt werden ganze Familien brutal von ihren Feldern, ihren Arbeitsplätzen und aus ihrer Heimat vertrieben. Nicht selten wird der Haupternährer getötet, Familien werden auseinander gerissen und können ihren Lebensunterhalt nicht mehr ohne Hilfe bestreiten.
Wirtschaftskrisen führen dazu, dass viele Menschen ihre Arbeit verlieren und gleichzeitig die Preise für Nahrungsmittel und andere lebenswichtige Dinge wie Medikamente drastisch steigen - so werden Nahrungsmittel für arme Familien häufig unerschwinglich.
Wie kann man Kinder vor dem Hungertod retten?
Die gute Nachricht ist: Wird eine akute Mangelernährung rechtzeitig erkannt und behandelt, haben die Kinder sehr gute Chancen, zu überleben und wieder gesund zu werden. UNICEF sorgt in Krisensituationen weltweit dafür, dass der Ernährungszustand von möglichst vielen Kindern überprüft wird – das geht zum Beispiel ganz leicht, indem man mit einem Maßband den Umfang des Oberarms misst. Zeigt das Maßband rot, muss das Kind sofort behandelt werden.
Dafür setzt UNICEF erfolgreich therapeutische Zusatznahrung ein, vor allem angereicherte Spezialmilch und Päckchen mit sehr energiehaltiger Erdnusspaste. Schon nach wenigen Tagen geht es den meisten Kindern damit deutlich besser.
Was ist therapeutische Zusatznahrung?
Die therapeutische Zusatznahrung ist so zusammengesetzt, dass schwer mangelernährte Kinder diese Nahrung auch im extrem ausgezehrten Zustand essen, schlucken und verdauen können. Sie enthält zudem lebenswichtige Vitamine und Mineralien, damit die Kinder wieder zu Kräften kommen.
Sehr junge und sehr geschwächte Kinder erhalten therapeutische Spezialmilch, die über einen Nasenschlauch oder mit einem Löffel in kleinen Portionen verabreicht wird. Manche Kinder müssen gleichzeitig zum Beispiel gegen Durchfall oder Malaria behandelt werden.
Wenn es den Kindern etwas besser geht, bekommen sie eine angereicherte Erdnusspaste. Die Erdnusspaste ist in kleinen Portionen verpackt, lange haltbar und kann direkt aus den Päckchen gefüttert werden. Wenn die Kinder nicht in einem kritischen Zustand sind, können die Eltern die Päckchen vom Ernährungszentrum mit nach Hause nehmen und ihre Kinder zu Hause versorgen.
Die mangelernährten Mädchen und Jungen erhalten die therapeutische Nahrung in der Regel einige Wochen lang, bis sich ihr Gewicht stabilisiert hat. Während dieser Zeit werden sie weiterhin regelmäßig medizinisch untersucht.
Therapeutische Zusatznahrung sollte nur in Fällen von schwerer Mangelernährung verwendet werden. Sie ist eine Behandlung für stark geschwächte Kinder und kein Ersatz für gesunde Ernährung.
Bringt diese Hilfe überhaupt etwas?
Ja, die Hilfe bringt viel! Es ist frustrierend, dass es im 21. Jahrhundert immer noch nicht gelungen ist, den weltweiten Hunger zu beenden. Die aktuellen Krisen sind vor allem von Menschen gemacht: Im Jemen, in Somalia, in der Zentralafrikanischen Republik und im Südsudan haben Konflikte und Gewalt die ohnehin schon schwierige Situation der ärmsten Familien verschärft, weil sie zum Beispiel ihre Felder nicht bestellen konnten, weil Importe erschwert werden und die Lebensmittelpreise drastisch gestiegen sind. Wegen der Sicherheitslage haben Helfer auch häufig keinen Zugang zu allen Menschen in Not.
Die Klimakrise führt dazu, dass gerade in den ärmsten Ländern Wetter-Extreme wie Dürren, Überschwemmungen oder Wirbelstürme immer häufiger auftreten. Unter dem Klimawandel leiden derzeit damit die Länder am meisten, die am wenigsten zu seiner Verschärfung beitragen.
Die Kinder können nichts für diese Krisen – wir müssen alles tun, zu verhindern, dass sich eine Katastrophe wie 2011 am Horn von Afrika wiederholt. Und wir tun auch schon sehr viel: Allein in der ersten Jahreshälfte 2019 wurden bereits über 128.000 lebensbedrohlich mangelernährte Kinder im Südsudan und 131.000 Kinder im Jemen mit therapeutischer Nahrung behandelt. Für diese Nothilfe brauchen wir dringend weitere Unterstützung!
Gleichzeitig muss die langfristige Hilfe weitergehen, um die Kinder besser vor künftigen Krisen zu schützen. Wussten Sie übrigens, dass die weltweite Kindersterblichkeit in den vergangenen 20 Jahren mehr als halbiert wurde? Flächendeckende Impfungen und auch der Einsatz von therapeutischer Zusatznahrung haben dazu beigetragen. Es gibt also auch Erfolge, auf denen wir aufbauen können.
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