Nicht genügend Essen, mangelhafte medizinische Versorgung, schmutziges Wasser, große Bildungslücken: Die Liste, an was es in Afghanistan mangelt, ist lang. Die Bedingungen vor allem für Kinder sind mehr als schlecht und äußern sich häufig in Form von Mangelernährung. Daniel Timme lebt in Kabul und ist für UNICEF als Leiter der Kommunikation tätig. Er reist durchs Land, spricht mit den Menschen und versucht ihre Sorgen und Bedürfnisse zu erfassen.
Es gibt schlechte Nachrichten beim Hunger in der Welt: In den letzten zehn Jahren hat sich laut dem Welthunger-Index 2024 der Welthungerhilfe der Fortschritt bei der Reduzierung von Hunger immer weiter verlangsamt. Das selbsterklärte nachhaltige Ziel der Weltgemeinschaft, den Hunger in der Welt bis 2030 zu beenden, rückt damit geradezu in unerreichbare Ferne. In 42 Ländern ist die Lage ernst oder sehr ernst. Eines davon ist Afghanistan. Multiple Krisen, wie langjährige Kriege und Konflikte, tiefgreifende, bittere Armut und Auswirkungen des Klimawandels erhöhen den Druck auf die afghanische Gesellschaft und sorgen dafür, dass die Ernährungslage unsicher ist. Auch Daniel Timme, Leiter der Kommunikation von UNICEF in Afghanistan, ist besorgt, insbesondere aufgrund der zahllosen Fälle von Mangelernährung im Land und über die katastrophale Situation der Mädchen.
Herr Timme, wie ist es zur Zeit als Kind in Afghanistan zu leben?
Daniel Timme: Die Welt hat sich mittlerweile von uns abgewandt. Vor drei Jahren war Afghanistan noch groß in den Schlagzeilen. Extrem viele Menschen hier leben in Armut und ca. die Hälfte davon sind Kinder. 12,6 Millionen Kinder sind im Moment auf Hilfe angewiesen.
Was macht Ihnen bei UNICEF in Afghanistan mit am meisten Sorge?
Ungefähr die Hälfte der Kinder leiden unter chronischer Mangelernährung. Das heißt, sie bekommen nicht genug ausgeglichene Nahrung, um sich gut entwickeln zu können. Sie müssten in den ersten zwei Lebensjahren behandelt werden, um ihre körperliche und geistige Entwicklung nicht zu beeinträchtigen. Das hat immense Auswirkungen auf die Bevölkerung und auf die Zukunft des ganzen Landes.
Können Sie da näher drauf eingehen?
Kinder sind die Zukunft einer Gesellschaft. Wenn sie nicht gut entwickelt sind oder sterben, dann ist das für zukünftige Generationen, die das Land am Laufen halten sollen, schwierig. 850.000 Kinder in Afghanistan sind schwer akut mangelernährt und damit auf einem lebensbedrohlichen Level. Schlechte Ernährung hat einen großen Einfluss auf das Immunsystem. Das heißt, Kinder, die mangelernährt sind, die sterben nicht unbedingt daran, dass sie mangelernährt sind, sondern an zusätzlichen Krankheiten. Ihre Körper können im mangelernährten Zustand einfach sehr viel schlechter mit Infektionen umgehen.
Was genau tut man im Fall von Mangelernährung?
Das kommt darauf an: Wenn die Kinder moderat mangelernährt sind, können sie vor Ort behandelt werden. Wenn es sich jedoch um eine schwere akute Mangelernährung handelt, dann müssen die Kinder oft aus sehr abgelegenen Dörfern in das nächstgelegene Gesundheitszentrum gebracht werden. Sie müssen stabilisiert werden, damit sie nicht sterben. Sie bekommen eine spezielle therapeutische Milch, da sie viel zu schwach sind, um normale Nahrung aufnehmen zu können. Wenn sie dann einigermaßen stabilisiert sind, bekommen sie eine reichhaltige Erdnusspaste.
Das hört sich nach dramatischen Zuständen an. Wie organisiert sich UNICEF, um Mangelernährung zu bekämpfen?
Wir unterstützen im ganzen Land Gesundheitszentren, die immer auch eine große Abteilung für Mangelernährung haben. Unsere Arbeit in dem Bereich ist dreigeteilt. Das erste ist Aufklärung und Prävention, das zweite das Screening und der dritte Bereich ist dann die tatsächliche Behandlung.
Was genau meinen Sie mit Aufklärung?
Wir versuchen vor allem junge Mütter darin zu schulen, Mangelernährung bei ihren Kindern zu verhindern. Viele von ihnen wissen das nicht. Das hängt damit zusammen, dass sie oft sehr früh Kinder bekommen, wenn sie selbst noch Kinder sind. Bildung und Mangelernährung sind eng miteinander verbunden. Unsere Ernährungsexperten gucken sich an, was an Nahrung verfügbar ist, und wie man mit dem, was da ist, eine ausgeglichene Ernährung für die Kinder gewährleisten kann.
Was geben Sie den Müttern mit auf den Weg?
Ein großer Bestandteil ist das Stillen. Es ist wichtig, dass Mütter die Kinder bis zu sechs Monaten ausschließlich durch Stillen ernähren. Das Füttern von anderen Dingen, wie Brei oder Tee ist sehr riskant, weil dabei manchmal schmutziges Wasser verwendet wird und kleine Babys sehr schnell Durchfallerkrankungen oder Parasiten bekommen. Das trägt dann weiter zur Mangelernährung bei und kann tödlich enden.
Sie sagten, dass UNICEF im ganzen Land Gesundheitszentren unterstützt, aber wie finden die Menschen diese Hilfsangebote?
Es ist teilweise sehr schwierig, weil manche Gegenden so weit weg sind und die Menschen dort keinen Zugang zur Gesundheitsversorgung haben. Wir arbeiten derzeit daran, das System zu dezentralisieren, sodass es nicht nur große Provinzkrankenhäuser gibt, sondern eher kleinere Gesundheitspunkte überall verteilt. So können die Leute sie leichter finden und haben besseren Zugang zu diesem Angebot.
Und wie gewährleisten Sie die Versorgung?
Ein wichtiger Teil unserer Arbeit besteht in der Ausbildung sogenannter Community Health Workers (zu dt.: Gesundheitshelfer der Gemeinden). Das sind Krankenpflegerinnen und -pfleger, die als mobile Teams in sehr abgelegene Dörfer gehen, dort aufklären und, das wäre der zweite Bereich, das Screening vornehmen, bei dem alle Kinder untersucht werden. Dazu gehört unter anderem die Armumfangmessung und Wiegen, das Messen der Körpergröße, um es dann ins Verhältnis zum Alter der Kinder zu setzen. Daran lässt sich schnell feststellen, ob sie mangelernährt sind.
Sie sprachen bereits über die Verbindung zwischen Bildung und Mangelernährung. Bildung ist ohnehin ein schwieriges Thema in Afghanistan.
Die Bildungslage hier ist generell sehr schlecht. Eins von drei Kindern in Afghanistan geht nicht zur Schule. Und 60 Prozent der Kinder, die nicht zur Schule gehen, sind Mädchen. Zusätzlich gibt es den neuen Erlass, der bewirkt, dass Mädchen ab der 6. Klasse nicht mehr auf die weiterführende Schule gehen dürfen. Das betrifft ungefähr 1,5 Millionen Mädchen.
Wie geht es den Mädchen damit?
Ich bin viel im Land unterwegs und treffe oft Familien mit Töchtern. Der größte Teil dieser Mädchen ist sehr verzweifelt. Sie sind in einem Alter, wo sie voller Ideen und Projekte sind. Jetzt werden sie zu Hause eingesperrt und, anders kann man es leider nicht sagen, dürfen nur noch als Haushaltshilfe arbeiten, um dann möglichst schnell verheiratet zu werden. Sie werden nicht nur ihres Rechts auf Bildung beraubt, auch ihre mentale Gesundheit leidet immens. Es gibt immer mehr Berichte von jungen Mädchen, die Selbstmord begehen.
Inwieweit ist UNICEF noch aktiv im Bereich Bildung?
Wir arbeiten natürlich weiter für die Kinder, die noch zur Schule gehen können. Wir sanieren Schulgebäude, die durch viele Jahre des Konfliktes zerstört worden sind. Ein wichtiger Bereich ist die Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern, denn davon gibt es viel zu wenig. Sollte das Verbot für die Mädchen aufgehoben werden, wollen wir sicherstellen, dass die Schulen und das Lehrpersonal zur Verfügung stehen. Bildung ist einfach ein entscheidender Faktor für die Gesamtsituation des Landes.
Über die Person:
- Daniel Timme ist Kommunikations- und Advocacy-Leiter bei UNICEF in Afghanistan. Er ist für die Außenbeziehungen, insbesondere mit Gebern und Geberländern, zuständig. In seiner Arbeit versuchen er und sein Team immer wieder deutlich zu machen, was UNICEF in Afghanistan leistet und wie die ihnen anvertrauten Gelder eingesetzt werden. Timme lebt in Kabul.
Verwendete Quellen:
- Welthungerhilfe Index 2024
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