- Für Familien in der Ukraine verschärfen der einsetzende Winter und die andauernden Angriffe auf Versorgungseinrichtungen ihre Notlage noch weiter.
- Insbesondere Kinder sind durch den Mangel an Strom, Wasser und Heizung zusätzlichen Gefahren ausgesetzt.
- Unsere Redaktion hat mit Christine Kahmann von UNICEF Deutschland, die gerade aus der Ukraine zurückgekehrt ist, über die Lage im Kriegsgebiet gesprochen.
Die andauernden Angriffe auf die Energieversorgung und sinkende Temperaturen verschärfen die Not der Bevölkerung in der Ukraine. Ohne Strom, Wasser und Heizung wissen Familien oft nicht, wie sie ihre Kinder vor der Kälte schützen und mit dem Grundlegenden versorgen sollen.
Der fortdauernde Beschuss und Stromausfälle führen auch dazu, dass Kinder in manchen Regionen nicht in die Schule gehen oder nur eingeschränkt am Online-Unterricht teilnehmen können. Unsere Redaktion hat mit UNICEF-Sprecherin Christine Kahmann gesprochen, die mit einem Team Hilfsprogramme für Kinder in der Ukraine besucht hat.
Liebe Frau Kahmann, Sie waren vom 13. bis 19. November mit einem Team von UNICEF Deutschland in der Ukraine unterwegs, um sich dort ein Bild von der Lage, insbesondere der Kinder und ihrer Familien zu machen. Sie haben unter anderem die Städte Dnipro, Zhytomyr, Charkiw und Odessa besucht. Wie muss man sich den Alltag, die Situation der Kinder derzeit vorstellen?
Christine Kahmann: Die Kinder erleben seit nunmehr neun Monaten einen schrecklichen Albtraum. Wir haben mit Familien und Kindern gesprochen und kein Kind bleibt durch diesen Krieg unberührt. Das war überall greifbar. Immer wieder holt der Krieg sie ein. Eine Kindheit, wie wir sie jedem Kind wünschen würden, gibt es kaum. Die Kinder müssen immer wieder in Schutzräume flüchten, um sich vor Angriffen zu schützen. Immer wieder gibt es Sirenenalarm. Sie haben Grausames miterlebt, mussten teilweise unter Lebensgefahr fliehen. Und sie werden Zeugen und Zeuginnen von Gewalt.
Wir haben zum Beispiel mit einer Familie außerhalb von Balaklija in der Region Charkiw gesprochen, ein Ort, der erst seit ein paar Wochen wieder zugänglich ist. Die Familie hat vier Kinder und sie mussten zweimal unter Lebensgefahr fliehen. Ihr Heimatort war heftig umkämpft und es war teilweise zu gefährlich, den Ort zu verlassen. Die Kinder haben monatelang in Schutzräumen verbracht. Wenn man sich vorstellt, was das mit der Seele, mit dem Leben von Kindern macht, dann zeigt das, welche gravierenden Folgen dieser Krieg für die Kinder hat.
Hinzu kommen auch die psychischen Belastungen von Kindern, die nicht unmittelbar vom Krieg betroffen sind. Denn alle Kinder, mit denen wir gesprochen haben, sehnen sich nach ihren Vätern und ihren Freunden. Und einfach auch nach Alltag, mit Schule, Kindergarten, Lachen. Die schlimmen Kriegserfahrungen hinterlassen tiefe Wunden.
Besonders besorgniserregend ist, dass die Lage sich weiter verschärft. Als wir dort waren, hat es angefangen zu schneien. Und durch die Angriffe auf die Energieversorgung, die beispielsweise gestern (Mittwoch, 23.11.; Anm.d.Red.) wieder stattgefunden haben, oder auch vor einer Woche, als wir in Charkiw waren, bedeutet das, dass die Kinder frieren. Es gibt kein Licht, keine Heizung, kein Wasser. Und das stellt die Familien vor riesige Herausforderungen mit dem einsetzenden Winter.
Sie waren auch, wie Sie gerade meinten, in Gebieten, die erst seit Kurzem wieder für humanitäre Hilfe zugänglich sind. Wie ist dort die Situation? Was benötigen die Familien am meisten? Oder unterscheidet sich das nicht von den anderen Gebieten, die durchgängig oder meistens zugänglich waren?
Die Situation dort ist wirklich gravierend. Der Ort Balaklija, den ich gerade erwähnt habe, war monatelang nicht zugänglich, es gab keine funktionierende Gesundheits- und Grundversorgung. Ich habe mit einem 14-jährigen Mädchen gesprochen, das die ganze Zeit dort mit seiner Familie ausgeharrt hat. Sie konnte nicht zur Schule gehen. Man hat auch die Zerstörung in der Stadt gesehen. Den Menschen fehlt es an allem. Es fehlt an Medikamenten, Strom, medizinischer Ausrüstung für die Krankenhäuser, Lernmöglichkeiten für die Kinder. Und einfach auch an warmen Orten, wo Kinder und ihre Familien Zuflucht suchen können.
Deswegen hat UNICEF dort ein sogenanntes Spilno-Kinderzentrum errichtet. "Spilno" steht für "zusammen" auf Ukrainisch. Es gibt mittlerweile über 100 dieser Orte im ganzen Land, die Rückzugsorte für Kinder sind. Dort können sie spielen, malen, erhalten psychosoziale Hilfe. Ihre Eltern erhalten dort auch gesundheitliche Unterstützung oder Informationen über soziale Dienste wie Bargeldhilfen.
Diese Orte sind unglaublich wichtig, weil wir wissen, dass Kinder in Krisensituationen das Erlebte besser verarbeiten und für einen Moment wieder Kind sein können, wenn sie Halt und Unterstützung erfahren. Wir haben gesehen, dass Kinder wieder lachen, es wurde getanzt und gezaubert. Diese kinderfreundlichen Orte sind unglaublich wichtig, um den Kindern jetzt in dieser schwierigen Situation beizustehen.
Ich stelle mir das schwierig vor, diese sicheren Orte einzurichten. Beziehungsweise zu identifizieren, wo es trotz der vielen Angriffe auf zivile Einrichtungen sicher genug ist. Sind das dann insbesondere unterirdische Anlagen?
Das ist unterschiedlich. UNICEF arbeitet im ganzen Land eng mit Partnern und den Behörden zusammen. Wir haben zum Beispiel in Charkiw ein Spilno-Kinderzentrum in einer U-Bahn-Station eingerichtet. Dort waren wir auch, als vor zehn Tagen die schweren landesweiten Angriffe losgingen. Das Spilno-Zentrum war ein Ort der kindlichen Unbeschwertheit, zumindest für ein paar Stunden, für ein paar Minuten, während oben die Angriffe und Einschläge weitergingen.
In Balaklija ist das Spilno-Kinderzentrum im Stadtzentrum und wurde bereits winterfest gemacht, sodass sich Familien dort aufwärmen können. Warme Anlaufstellen für Familien möchten wir mit den Behörden jetzt weiter ausweiten, damit Familien zum Beispiel dort auch kochen und heißes Wasser holen können, weil das angesichts der Angriffe auf die Energieversorgung in vielen Städten zeitweise nicht möglich ist.
Der Großteil der ukrainischen Kinder ist mittlerweile geflohen, entweder innerhalb der Ukraine oder in eines der Nachbarländer. Manchen Familien war es aber nicht möglich zu fliehen. Lag das dann daran, dass Fluchtkorridore abgeschnitten waren oder auch vielleicht an fehlenden finanziellen Möglichkeiten, um beispielsweise Verwandte im Ausland zu erreichen?
Grundsätzlich hatte ich das Gefühl, dass viele Familien, das haben wir immer wieder in unseren Gesprächen gemerkt, am liebsten in ihren Heimatorten bleiben möchten und wieder in diese zurückkehren, sobald sie wieder zugänglich sind. Es gibt verschiedene Gründe, warum die Menschen aus den umkämpften Gebieten nicht fliehen können. Oft ist es einfach zu gefährlich. Ein anderer Grund ist, weil sie nicht wissen, wohin, weil sie vielleicht keine Angehörigen in anderen Orten des Landes oder auch außerhalb des Landes haben.
Wir haben gerade schon über sichere Orte für Kinder gesprochen. Wie sieht es denn mit der Bildungssituation aus? Denn durch Stromausfälle oder Angriffe auf Schulen ist der Unterricht wahrscheinlich nur sehr begrenzt, wenn überhaupt möglich, oder?
Zunächst ist es beeindruckend, dass die ukrainischen Behörden das digitale Lernen weiter ermöglichen. Wir haben mit vielen Schülerinnen und Schülern gesprochen, die weiter probieren, online zu lernen und sei es nur für ein paar Stunden tagsüber. Das Angebot besteht. Gleichzeitig gilt, dass auch der Präsenzunterricht weitergeht, wo immer das möglich ist. Allerdings sind im Moment nur drei von fünf Schulen funktionsfähig. Entweder weil sie beschädigt oder zerstört wurden, weil sie in verminten Gebieten sind, aber auch, weil die Schulen nur öffnen können, wenn sie über Schutzräume verfügen. Sodass die Kinder, wenn es Angriffe gibt, wie wir sie miterlebt haben, in den Schutzräumen Zuflucht suchen können.
Durch die Angriffe auf die Energieversorgung fällt der Strom immer wieder aus. Dann können die Kinder nicht online lernen. Hinzu kommt, dass nicht alle Familien Endgeräte besitzen. Das ist zum Beispiel in Gebieten, die lange nicht zugänglich waren, eine Herausforderung. Deswegen versucht UNICEF mit den Spilno-Kinderzentren und gemeinsam mit seinen Partnern Orte einzurichten, an denen Kinder in einem warmen Umfeld lernen können. Damit das Lernen, das so wichtig für eine ganze Generation von Kindern ist, weitergehen kann.
Sie haben schon die Stromausfälle angesprochen oder dass es an Medikamenten fehlt. Jetzt hat es in einigen Regionen geschneit. Was ist essenziell in der Arbeit von UNICEF für die kommenden Monate, worauf liegt der Fokus?
Durch die schweren Angriffe hat sich die Not der Kinder noch einmal drastisch verschärft. Häuser in vielen Landesteilen sind beschädigt oder zerstört. Familien können ihr Zuhause nicht heizen, haben kein warmes Wasser und keine Möglichkeit zu kochen. Die Kinder harren in der Dunkelheit aus und frieren. Deswegen ist es ganz wichtig, die Winterhilfe für Kinder weiter auszuweiten. Es geht jetzt darum, weiter Decken und Winterkleidung, aber auch Medikamente zu liefern.
Auch Generatoren sind enorm wichtig. Zum Beispiel haben wir eine Geburtsklinik besucht, an die UNICEF vor ein paar Wochen Generatoren geliefert hat, sodass die Grundversorgung des Krankenhauses überhaupt weiter funktionieren kann. Wir reden hier über lebenswichtige Dienste, die weiter aufrechterhalten werden müssen. Wir reden über Intensivstationen und Kreißsäle.
In den vergangenen Monaten hat UNICEF eine große Versorgungskette aufgebaut und mehr als 12.000 Tonnen Hilfsgüter ins Land geschafft. Aber, wie wir alle wissen, ist dies angesichts der schwierigen Lage keine leichte Aufgabe und angesichts des Wintereinbruchs ein Wettlauf mit der Zeit.
Erst am Mittwoch gab es wieder einen Angriff auf ein Krankenhaus. Wie viele Krankenhäuser oder Gesundheitszentren sind denn derzeit noch in der Lage, Verletzte zu versorgen?
Bei den Angriffen ist offenbar auch ein Säugling ums Leben gekommen. Kinder sind die Hauptleidtragenden dieses Krieges. Das ukrainische Gesundheitssystem ist durch den Krieg stark belastet, zeigt aber gleichzeitig eine große Widerstandskraft. Die Ärztinnen und Ärzte versuchen alles in ihrer Macht Stehende, um das Gesundheitssystem funktionsfähig zu halten. Ebenso die Behörden. Aber es gibt immer wieder Angriffe auf Gesundheitseinrichtungen. Die WHO geht von mehr als 700 Angriffen auf solche Einrichtungen aus.
Sie haben bereits die enorme psychische Belastung für Kinder angesprochen, die traumatischen Erlebnisse oder Gräueltaten, die sie zum Teil gesehen haben. Die Spilno-Kinderzentren spielen in der Aufarbeitung eine große Rolle. Aber kann es, gerade in dem noch bestehenden Kriegsszenario, überhaupt gelingen, das Erlebte zu verarbeiten?
Die Kinder haben Schreckliches erlebt. Aber sie zeigen auch eine unglaubliche Kraft, trotz der grausamen Erfahrungen nach vorne zu schauen und das Erlebte irgendwie zu verarbeiten. Wir haben mit einer Mutter gesprochen, die mit ihren kleinen Kindern geflohen ist. Sie mussten innerhalb von 30 Minuten ihre Sachen packen und sind nur mit dem Nötigsten aus Donezk geflohen. Sie sind in einer Notunterkunft untergekommen und die Mutter hat sich sehr berührend um die Kinder gekümmert.
Die Kinder haben berichtet, wie sehr sie sich nach ihren Freunden, ihrem Papa, ihrem Zuhause sehnen. Ich habe ihre Mutter gefragt, wie sie es schafft, so positiv zu bleiben. Wie sie es schafft, diesen Mut und diese Kraft auch an ihre Kinder weiterzugeben. Und sie hat gesagt, sie könne sich nicht erlauben zu weinen, weil sie für ihre Kinder stark sein müsse. Und dass sie, wenn sie weinen würde, wahrscheinlich nicht aufhören könne. Dieser Zusammenhalt, diese Kraft, die die Familien sich auch untereinander geben, hat mich sehr berührt.
Über mobile psychosoziale Teams versuchen wir auch Familien zu unterstützen, die in entlegenen und schwer erreichbaren Regionen leben. Manche Kinder benötigen eine weitergehende psychologische Unterstützung, um mit den Gräueln dieses Krieges irgendwie zurechtzukommen.
Wie sicher können die Teams von UNICEF oder ihre Partner vor Ort arbeiten? Oder ist das sehr fragil, da man die Angriffe durch Russland überhaupt nicht einschätzen kann?
UNICEF arbeitet eng mit vielen Partnern im ganzen Land zusammen. Dazu gehören sowohl die Gemeinden als auch Partnerorganisationen, Krankenhäuser, Schulen. Es gibt eine sehr enge Koordinierung und Abstimmung, um diese Hilfe zu leisten. Sowohl in den umkämpften Gebieten oder in Gebieten, die immer wieder unter Beschuss geraten, aber natürlich auch in anderen Regionen, in denen Kinder oder geflüchtete Familien in Notunterkünften Unterstützung benötigen. Natürlich ist die Sicherheitslage eine Herausforderung. Aber UNICEF arbeitet schon seit sehr vielen Jahren in der Ukraine und es ist uns möglich, dort auch sehr gezielt und umfangreich Hilfe für Kinder zu leisten.
Gibt es eine Schätzung, wie viele Kinder Opfer von Kriegsverbrechen geworden sind?
Wir wissen leider, dass mehr als 400 Kinder aufgrund der Kriegshandlungen bereits ihr Leben verloren haben. Das ist mehr als ein Kind pro Tag seit Kriegsbeginn. Viele weitere wurden verletzt oder haben Schreckliches miterlebt. Die Kinder brauchen Schutz und dürfen nicht zur Zielscheibe von Angriffen werden. Die Kinder brauchen nichts mehr als Frieden. Aber solange ein Waffenstillstand in weiter Ferne scheint, benötigen sie humanitäre Hilfe und müssen mit dem Nötigsten erreicht werden, um durch den Winter zu kommen.
Wissen Sie etwas zu angeblichen Entführungen von Kindern durch Russland? Demnach werden Kinder entführt und für Propagandazwecke missbraucht und umerzogen. Unter anderem hat der Tschetschenen-Führer Kadyrow Videos verbreitet.
Wir kennen die Berichte, wonach die Kinder vor allem aus den umkämpften Gebieten über die Grenze gebracht werden. Die Vereinten Nationen hatten aber bisher keine Möglichkeit, das unabhängig zu verifizieren, weil auch wir keinen regulären Zugang zu Gebieten entlang der Grenze haben.
Grundsätzlich gilt, dass solange der Verbleib der Eltern oder der Angehörigen nicht geklärt ist, wir davon ausgehen, dass die meisten von ihnen noch Angehörige haben. Das gilt auch für die mehr als 90.000 Kinder, die bereits vor der Eskalation des Krieges im Februar in Heimen lebten. Deswegen ist es wichtig, dass Kinder mit ihren Familien zusammengebracht werden oder sie mit ihren Familien zusammenbleiben. Und dass, wenn Kinder außer Landes gebracht wurden, so schnell wie möglich Informationen über ihren Verbleib bereitgestellt und sie wieder mit ihren Angehörigen zusammengebracht werden.
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