Aktuell gibt es keine neuen "Tatort"-Fälle - der Lieblingskrimi der Deutschen macht Sommerpause. Stattdessen zeigt das Erste Wiederholungen, diesmal aus Hamburg. In "Die goldene Zeit" wird Kommissar Falke mit seiner Vergangenheit als Türsteher im Rotlichtviertel konfrontiert – und macht einen folgenschweren Fehler.
Vor ein paar Jahren gab
Klar gehörten ihm selbst "früher auch ein paar Mädels". Heute sei das Leben als Zuhälter viel zu gefährlich: "Du musst echt Angst haben, dass da ein 14-Jähriger kommt, der dir zweimal das Messer reinsticht, und es ist vorbei. Irgendein Kind aus Russland, das kriegt 400 Euro, und dann schicken die den wieder nach Hause."
Früher, hätte es sowas nicht gegeben. "Egal ob ich Rocker bin, Zuhälter bin oder sonst was: Du musst doch vor deinem Gegenüber eine gewisse Art Respekt haben."
Es ist ein großes Glück für "Tatort"-Fans, dass der Drehbuchautor Georg Lippert sich von diesem Interview inspirieren ließ: Mit "Eisen-Lübke" hat er eine der eindrucksvollsten "Tatort"-Figuren überhaupt geschaffen, den wahren Helden dieser Folge.
Lübke, der von Michael Thomas noch dazu kongenial gespielt wird, ist so eine Kiez-Legende aus der "guten" alten Zeit: Mit wildem grauen Haar, tätowierten Muskeln und langem Ledermantel, in dem er durch die Straßen humpelt, die er früher mal die seinen nennen konnte.
Damals, als er für die Sicherheit des Kiezkönigs Egon Pohl zuständig war. Heute bewerfen ihn die neuen Machthaber, ein albanischer Clan, von den Terrassen ihrer Shisha Bars aus mit abgenagten Hühnerknochen.
"Tatort Hamburg: Die goldene Zeit": Keine Nostalgie auf der Reeperbahn
In "Die goldene Zeit" müssen Thorsten Falke (Wotan Wilke Möhrig) und Julia Grosz (Franziska Weisz) den Mord an Pohls Sohn aufklären, der für den "Love Dome" zuständig war, ein Laufhaus, in dem sich, so die Werbung "80 Girls aus 14 Ländern auf fünf Etagen" den Freiern anbieten.
Die Zuschauer wissen allerdings von Anfang an, wer Johannes Pohl erstochen hat. Und auch Lübke, der für die Pohls wenigstens noch Botengänge erledigen darf und deshalb als erster am Tatort war, kriegt schnell heraus, dass es sich um den 14-jährigen Rumänen Matei handelt – ein Kind, das Mörder spielt (und dem das rumänische Ausnahmetalent Bogdan Iancu eine herzzerreißende Tiefe gibt).
Als Falke Lübkes Mithilfe an dem Fall ablehnt, beginnt der alte Kämpfer auf eigene Faust seinen Rachefeldzug, um dem so verehrten Pohl endlich wieder seinen Wert zu beweisen.
"Den kennt man auf dem Kiez", winkt Falke unbehaglich ab, als Grosz sich über die Vertrautheit zwischen ihrem Kollegen und Lübke wundert. Tatsächlich kennt Falke Lübke so gut, dass er in dem Buch vorkommt, das Lübke über seine goldenen Zeiten auf St. Pauli geschrieben hat (eine nette Anspielung auf Eddy Kantes Autobiografie über seine kriminelle Vergangenheit vor Udo).
"Selbstverlag", sagt Lübke leicht beschämt zu Falke, "war jetzt nicht so der Burner". Aber als der Kommissar noch kein Kommissar war, sondern ihm auch eine ganz andere Karriere auf Hamburgs Straßen offen stand, hat Falke von Lübke alles gelernt, was man als 18-jähriger Türsteher zum Überleben wissen muss.
Und vielleicht auch als Polizist. Und so lässt er den alten Mentor ziehen, was sich als Fehler erweist. Mit nostalgischen Gefühlen für die Reeperbahn von früher kommt man auf dem St. Pauli von heute nicht weit.
Einer der coolsten "Tatorte" der letzten Jahre
Von diesem Spannungsverhältnis erzählt "Die goldene Zeit" ohne verklärenden Kiez-Kitsch. Regisseurin Mia Spengler inszeniert ihren ersten "Tatort" stattdessen voller Respekt für das Viertel und seine Geschichte.
Ein Krimi als poetische Dokumentation, die mit schnellen Schnitten, grellen Farben, kühlem Licht und verzerrten Bildern die rohen Emotionen einfängt. Das macht den Film zu einem der coolsten "Tatorte" der letzten Jahre, mit einer meisterhaften Bildsprache, die den sonst für St. Pauli-Krimis so typischen verschämt-gierigen Blick nicht zulässt.
Wir Zuschauer sind hier nicht kichernde Touristen, die von Drag-Queens durch die Straßen von St. Pauli geführt werden – uns wird vielmehr die Perspektive von Julia Grosz angeboten, der anders als Falke jede Sentimentalität abgeht, ohne dass es ihr an Empathie mangelt.
Als der schmierige Manager von Pohls Laufhaus davon faselt, wie familiär es in seinem "Love Dome" zugehe, unterbricht sie ihn genervt: "Jaja, die Frauen sind alle freiwillig hier, ohne Luden, sie können sich die Tage aussuchen, an denen sie arbeiten und jedes Zimmer hat ein eigenes Bad. Die Geschichten kennen wir…"
Grosz weiß genau, dass die Selbstbestimmtheit ungefähr an der Grenze endet, die die Busse aus Osteuropa überqueren und dass kein Bad der Welt vom dem Dreck befreien kann, dem sich diese Frauen aussetzen müssen.
Und auch Grosz‘ Misstrauen gegenüber Lübke entpuppt sich schnell als gerechtfertigt. Der hat Matei gefunden und ist entschlossen, ihn für den alten Pohl umzubringen. Wenn da nur nicht die Sache mit der Ehre wäre: Als Ganove alter Schule knallt man keine drogenabhängigen Kinder ab.
Stattdessen entwickelt sich zwischen Matei, der das Coolsein noch üben muss, und dem alten Straßenköter, der das Weichsein längst zulassen kann, eine Beziehung, die in ihrer emotionalen Komplexität "Die goldene Zeit" ganz alleine tragen könnte. Muss sie aber nicht – in diesem Tatort stimmt so ziemlich alles.
Diese Kritik wurde erstmals zur Erstausstrahlung des Hamburger Falls am 9. Februar 2020 veröffentlicht.
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