Trauer ist nicht immer nur stilles Leid am schmucken Grab: In diesem starken "Tatort" bringt ein Mord ein Dorf an den Rand des Wahnsinns.
Die lebenslustige Hanna ist nach Stuttgart gezogen und hat ihr Dorf hinter sich gelassen. Die Eltern und deren Gasthof ebenfalls. Ihre jüngere Schwester Emma. Sogar den Verlobten mitsamt seinem Neubau und dem schicken Sofa "für die Hanna". Stattdessen hat Hanna Riedle (Mia Rainprechter) eine Ausbildung zur Tischlerin begonnen, ist tanzen gegangen, hat Partys gefeiert und das Dorf mit keiner Faser ihrer Seele vermisst.
Doch jetzt liegt Hanna erwürgt in einem Gebüsch am Neckar in Stuttgart. Als die Kommissare Thorsten Lannert (
Stuttgart ist die schwäbische Hauptstadt und mit dem Auto leicht zu erreichen, aber für die Dorfbewohner ist es das Ende der Welt, dort, "wo die Araber" sind, wie es ein Jagdfreund des Vaters ausdrückt.
"Lass sie gehen" erzählt von einer engen Gemeinschaft, die tief erschüttert wird
Natürlich ist man in Waldingen im Jagdverein. Es "geschafft" zu haben bedeutet hier, eine gute Arbeitsstelle im Betonbetrieb Löffler zu besitzen, so wie Hannas Ex-Verlobter Martin Gmähle (Sebastian Fritz). Bei dem hätte es die Hanna doch gut gehabt, wundern sich die Dörfler.
Für Lannert und Bootz gibt es genug Verdächtige. Der Ex-Verlobte natürlich. Oder ihr schmieriger Ausbilder in Stuttgart. Und nicht zuletzt ihr ehemaliger Mitschüler Marek Gorsky (Timocin Ziegler), ein "armes Schwein" und Außenseiter, der Hanna angebetet hat und nach ihrem Wegzug seine Chance gekommen sah. Als sich herausstellt, dass Marek Hanna in Stuttgart regelrecht gestalkt hat, hat die Dorfgemeinschaft ihren Sündenbock gefunden und die Gefühle eskalieren.
Ruhig und ohne Verurteilung erzählt "Lass sie gehen" von einer engen Gemeinschaft, die tief erschüttert wird. Vor allem aber ist der "Tatort" von Regisseur Andreas Kleinert und Drehbuchautor Norbert Baumgarten eine sehenswerte Studie über die Trauer. Der Vater Hannes (Moritz Führmann) ertränkt den Schmerz in selbst gebranntem Schnaps und nächtlichen Pogotänzen zu lauter Musik mitten in der leeren Kneipe.
Die Schwester Emma (Irene Böhm) ist seltsam unbeteiligt. Als habe sie sich längst an Hannas Abwesenheit gewöhnt. Als mache es für sie keinen Unterschied, ob Hanna in Stuttgart lebt oder in der Rechtsmedizin liegt.
Trauer ist nicht immer nur stilles Leid am schmucken Grab
Während man im Dorf Hannas Ermordung gewissermaßen als natürliche Folge ihres Umzugs in die Großstadt begreift, macht Hannas tiefgläubige Mutter Luise (Julika Jenkins) sich selbst für den Tod verantwortlich: "Ich habe sie umgebracht." Die beiden hatten einen Streit, als Hanna ihren Fortgang ankündigte: "Beten und arbeiten, das ist dein Leben. Das will ich nicht", hat sie ihre Mutter angebrüllt, und Luises letzte Worte waren: "Wenn du das machst, dann bist du für mich gestorben."
Julika Jenkins als Hannas Mutter gehören einige der verstörendsten Szenen des Films – etwa, wenn sie ganz allein am Esstisch sitzt, wo die Familie vor kurzem noch vergeblich auf Hanna wartete, und sich wie im Wahn Knödel in den Mund stopft, als wolle sie sich und ihre Schuldgefühle ersticken.
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Doch Selbstzerstörung ist nicht der einzige brennende Wunsch, der Luise Riedle von innen zu zerfressen droht. Ihr Schmerz und ihre Rachsucht lassen Mann und Tochter kaum Raum zu trauern. Hannes, der seine Frau abgöttisch liebt, muss alle Kraft darauf aufwenden, die Familie zusammenzuhalten.
Trauer ist nicht immer nur stilles Leid am schmucken Grab. Mit seinen starken Schauspielern zeigt "Lass sie gehen" in eindrucksvollen Bildern (Kamera: Michael Merkel) und mit hämmernden Schlagzeugklängen (Musik: Daniel Michael Kaiser), wie hässlich sich Verzweiflung mitunter Luft macht. Wie sie eine Gemeinschaft, eine Familie nicht nur zusammenschweißen, sondern auch auseinanderreißen kann.
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