Während der Sommerpause zeigt das Erste gewöhnlich Wiederholungen älterer "Tatort"-Folgen. Anlässlich des 50-jährigen Jubiläums der Krimireihe darf in diesem Jahr das Publikum jede Woche per Online-Wahl entscheiden, was gezeigt wird. Diese Woche gewann "Kollaps" aus Dortmund mit fast 15.000 Stimmen.
Die Wunsch-"Tatort"-Wiederholungen zum 50-jährigen Jubiläum des Formats gehen diese Woche in die vierte Runde: Aus einer Liste von insgesamt 50 Folgen aus 20 Jahren "Tatort" konnte sich "Kollaps" mit 14.663 Stimmen durchsetzen und gewann die Publikumswahl für den wöchentlich ausgestrahlten Krimi. Dahinter lagen "Borowski und das Meer" (13.333 Stimmen) und "Die Faust" aus Wien mit knapp 8000 Stimmen.
Wieso heißt die "Tatort"-Folge aus Dortmund "Kollaps"?
Weil alles zusammenbricht: Die sechsjährige Emma auf dem Spielplatz, nachdem sie Drogen für Bonbons hält. Ihre Eltern, als Emma stirbt. Der Rettungssanitäter, der sich für ihren Tod verantwortlich fühlt. Das Leben der senegalesischen Geschwister, die auf dem Spielplatz mit Drogen handeln. Aber auch Kommissarin Martina Böhnisch (
Warum sollte man denn so eine traurige Folge noch einmal gucken wollen?
Gerade weil sie so traurig ist: Psychologische Forschungen haben gezeigt, dass negative Gefühle besonders intensiv erlebt werden. Das brachte Geisteswissenschaftler der Abteilung Sprache und Literatur am Frankfurter Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik auf eine Idee: Kunst zielt schließlich auch darauf ab, besonders tiefe emotionale Reaktionen hervorzurufen – sind negative Gefühle und künstlerische Darstellungsformen, wie ein Roman oder ein Fernsehfilm, dann nicht wie füreinander geschaffen?
"Der erste Faktor war bereits gut untersucht", so die Wissenschaftler: "Wir ordnen die Wahrnehmung von Kunstwerken in eine andere Kategorie von Erlebnissen ein als die der alltäglichen Realität. Diese kognitive Distanzierung schafft eine Art Sicherheitsraum, in dem wir negative Emotionen erleben können."
In einer Studie fanden sie 2017 darauf aufbauend heraus, dass Kunstwerke, "die uns in Wechselspiele positiver und negativer Gefühle verwickeln, als abwechslungsreicher, spannender und interessanter wahrgenommen" werden. "Gemischte" Gefühle also verstärken die Lust am Betrachten, und eher negative Emotionen wie Angst und Sorge verwandeln sich - beim Lesen eines Romans ebenso wie beim "Tatort"-Gucken - in das positive Gefühl größerer Anteilnahme.
Ist "Kollaps" eine Reaktion auf die Flüchtlingskrise?
Es ist auffällig, dass dieser Fall für die Dortmunder Ermittler weniger die Trauer der Eltern als vielmehr die Anteilnahme am Schicksal des Flüchtlingspaares in den Mittelpunkt stellt. Die Geschwister Jamal (Warsama Guled) und Niara (Victoire Laly) sind zwar als Drogendealer mitschuldig am tragischen Tod der sechsjährigen Emma, die Handlung betont allerdings das Los senegalesischer Flüchtlinge: Jamal und Niara haben für ihre Flucht aus dem Senegal nach Deutschland vier Jahre benötigt, Niara hat dabei mehrere Vergewaltigungen und Verletzungen ertragen müssen.
Die Folge wurde am 18. Oktober 2015 zum ersten Mal ausgestrahlt - auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise in Deutschland. Das Drehbuch von Jürgen Werner ist sicher früher entstanden, aber die Dreharbeiten fanden im Februar 2015 statt – in eher ungewöhnlich kurzem Abstand zur Ausstrahlung, zumal im selben Jahr bereits zwei Dortmunder Fälle gezeigt worden waren. "Kollaps" lässt sich also durchaus als ein aktueller gesellschaftlicher Kommentar lesen.
Darsteller Jürgen Hartmann formuliert es so: "Der Film erzählt, wie ich finde, wohin unsere Asyl- und Flüchtlingspolitik führen kann. Wenn den vor Elend, Mord und Totschlag zu uns flüchtenden Menschen in Deutschland Ausbildung und Arbeit verwehrt sind, bleibt ihnen letztendlich nur das Abrutschen ins kriminelle Milieu. Was das wiederum für tragische Folgen hat, sehen wir in ‚Kollaps‘." Da ist es dann auch nur folgerichtig, dass ausgerechnet der dauerkollabierte Faber, der zudem von der Trauer um seine eigene Tochter zerfressen wird, in seinem siebten Fall derjenige ist, der einen klaren Kopf und ein verständnisvolles Herz behält.
Sind Jamal und Niara wirklich Flüchtlinge?
Nein. Warsama Guled wurde 1988 im somalischen Hargeisa geboren und ist ein deutscher Schauspieler und Comedian. Außer in "Kollaps" war er 2016 auch im Frankfurter "Tatort: Land in dieser Zeit" als Drogendealer zu sehen.
Victoire Laly wurde 1991 in Benin geboren und zog als Achtjährige mit ihrer Familie nach Deutschland. Sie trat in Nebenrollen in dem Drogen-Drama "9 Tage wach" (im März auf ProSieben) und 2019 in der ZDF-Jugendserie "Druck" auf. Außerdem spielt die Berlinerin Theater im Kreuzberger Ballhaus Naunynstraße.
Wer ist Drehbuchautor Jürgen Werner?
Eine der Stärken des Dortmunder Teams ist die horizontale Erzählweise, die Erzählstränge über mehrere Folgen hinweg verfolgt: Faber geriet vor "Kollaps" auch im zweiten Fall, "Mein Revier", an Drogenboss Tarim Abakay, und sein Erzfeind Markus Graf hielt den Kommissar über mehrere Folgen hinweg in Atem.
Doch vor allem die Entwicklung der Ermittler selbst unterscheidet die Dortmunder von den Kollegen anderer Regionen und treibt die Handlung parallel zum jeweiligen Kriminalfall stetig voran.
Ausgedacht hat sich den verwüsteten Kommissar Faber der 1963 in Stuttgart geborene Jürgen Werner. Von den bisher 16 "Tatort"-Folgen für Kommissar Faber stammen zehn von ihm.
Der gelernte Fernmeldeelektroniker studierte Luft- und Raumfahrttechnik und kam erst über einen Nebenjob während des Studiums zum Schreiben. Anfangs wurden alle Bücher abgelehnt, wie Werner der "Süddeutschen Zeitung" erzählte: "Einmal bekam ich es sogar schriftlich, dass ich das Drehbuchschreiben lassen soll, weil ich leider völlig talentfrei sei." Mit Beharrlichkeit arbeitete er sich vom Assistenten über den Drehbuchkoordinator zu einem der erfolgreichsten Autoren Deutschlands hoch – vor allem Serien sind seine Spezialität: Viele Folgen "Traumschiff" hat er ebenso verfasst wie "Um Himmels willen". Die Geschichten zu "Forsthaus Falkenau" hat er erfunden.
Bei Serien lerne man, "Geschichten aus den Figuren heraus zu entwickeln". Die Handlung laufe ja nach einem immergleichen Schema ab, trotzdem müssten die Figuren "etwas erleben, etwas durchleben. Du bist gezwungen, dich mit den Menschen zu befassen." Deshalb gebe es, so Werner, "ohne Forsthaus Falkenau kein Tatort Dortmund: Das eine baut auf dem anderen auf."
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