Wrestling ist doch nur Show, alles ein abgekartetes Spiel: Während diese Meinung hierzulande vorherrscht, ist auf der anderen Seite des Erdballs das "Wrestlemania"-Fieber ausgebrochen. Der "Super Bowl" des Wrestling findet am Sonntag statt. Bei uns berührt das nur die wenigsten. Eine Reise in die USA im Ausnahmezustand.
Mein Gott, wie schnell einen die Leute verurteilen. Wie schnell man in der Wertschätzung eines Menschen sinken kann. Weil ich etwas gesagt habe. Etwas Harmloses, dachte ich. "Ich fliege bald in die USA. Zur 'Wrestlemania 31'." Schwupps geht eine Augenbraue meines Gegenübers hoch. Oft gefolgt von: "Wrestling? Du weißt schon, dass das nicht echt ist?" Ein weiterer All-Time-Classic: "Sag mal, wie alt bist du eigentlich?" Wer hierzulande ab und zu Wrestling schaut, gilt oft als Sonderling. Diese Erfahrung habe ich jedenfalls gemacht.
Wrestling ist bei uns eine Nischenerscheinung. Nur in den 1990ern gab es rund um Bret "The Hitman" Hart oder den Undertaker einen Boom. Der ist aber längst vorbei. Die wenigsten können sich damit anfreunden, dass die Kämpfe durchchoreographiert sind. Das sei kein echter Sport, sondern nur Theater, so die gängige Meinung. Die Shows laufen auf Spartensendern wie ProSieben Maxx und Tele 5, nur etwas mehr als 100.000 Menschen schauen im Schnitt zu. In den vergangenen Monaten rückte das Wrestling aber ein wenig in den Fokus zurück. Zum einen positiv, weil der deutsche Ex-Nationaltorhüter Tim Wiese mit dem Business liebäugelt. Zum anderen negativ, weil der mexikanische Wrestler Perro Aguayo Jr. wegen einer missglückten Aktion im Ring starb.
In den USA hingegen ist "Sports Entertainment" seit Jahren ein Massenereignis. Jede Woche sitzt vor den Fernsehern ein Millionenpublikum. Sie sehen zu, wie sich halbnackte, muskelbepackte Männer durch den Ring schleudern. Wrestling zählt trotz seiner Show-Elemente zu den beliebtesten Sportarten in den USA – angesiedelt irgendwo zwischen American Football, Baseball, Basketball und Eishockey. "Wrestlemania 31" ist in den USA ein Megaevent. Am Sonntag findet die Show in Santa Clara, Kalifornien statt.
"Wrestlemania", der "Super Bowl" des Wrestlings
Nach einem rund zehnstündigen Flug komme ich am Flughafen in Atlanta an. Weitere zehn Stunden habe ich noch vor mir, bis ich in San José bin, einer Stadt neben Santa Clara. Vorher muss ich noch die Dreieinigkeit des Horrors eines jeden USA-Einreisenden mitmachen: anstehen, warten, langweilen. Für mich ist es die erste Reise in die Vereinigten Staaten, doch ich habe schon viel über die "Nettigkeit" der US-Beamten gehört.
Nach 45 Minuten Wartezeit bin ich dran. Der Beamte in Uniform guckt mich grimmig an. Auweia. Ernst bleiben. Kooperativ sein, denke ich mir. Ich habe keine Lust auf Verhörzimmer oder ähnliches. Der Mann nimmt meine Papiere, tippt etwas in seinen Computer und nuschelt: "Wohin soll es gehen?" Ich antworte: "Nach San José" und denke mir, zur Auflockerung könnte ich trotz aller Ernsthaftigkeitsschwüre, die ich mir gegeben habe, noch ein "'Wrestlemania' anschauen" hinterher schieben. Gedacht, getan. Und siehe da: Seine Miene lockert sich. Er hört auf zu tippen und blickt von seinem Computer hoch: "Ehrlich, Sie haben ein Ticket? Wie cool ist das denn?" Plötzlich haben wir ein Gesprächsthema. Hinter mir grummeln wartende Einreisende. Nach einigen Minuten entlässt mich der Beamte, ruft aber noch "Viel Spaß!" hinterher. Interessant, Wrestling ist in den USA also ein Eisbrecher. Auch bei der gefürchteten Einreiseprozedur.
Atlanta ist rund fünf Flugstunden von San José entfernt. Fast 4.000 Kilometer liegen dazwischen. Das ist ungefähr so weit wie die Strecke Madrid nach Moskau. Trotzdem ist auch in Atlanta das Wrestling-Fieber ausgebrochen. Am Flughafen hängen "Wrestlemania"-Plakate. Manche Leute tragen Wrestling-T-Shirts. Ich schnappe mehrere Gespräche auf, in denen die Worte "WWE" (die Wrestling-Liga "World Wrestling Entertainment") oder eben "Wrestlemania" fallen. Die US-Amerikaner stimmen sich ein auf den "Super Bowl" des Wrestlings. Bei uns spielt all das keine Rolle.
Selfies am Flughafen mit den Wrestling-Altstars
Ich setze mich ans Gate meines Anschlussfluges nach San José. Dann höre ich hinter mir: "Darf ich mit Ihnen ein Foto machen?" Neugierig, wie ich bin, drehe ich mich um. Dort sitzen ein alter Mann und ein etwas jüngerer, aber auch nicht mehr ganz taufrischer Herr. Er hat viele Tattoos, sein Gesicht ist von Narben zerfurcht. Es sind Wrestling-Reporter "Mean Gene" Okerlund und der frühere Wrestler Diamond Dallas Page. Sie fliegen im selben Flugzeug nach San José wie ich. Zwei junge Damen machen Selfies mit ihnen. Danach pirschen sich weitere Fans an die beiden Männer heran und knipsen Fotos. Bei uns hätte die beiden wohl keiner erkannt.
Nach insgesamt 20 Stunden lande ich in San José. Ein Mitarbeiter des Flughafens kommt zum Gate. Er holt den 72 Jahre alten Okerlund mit einem Rollstuhl ab. Als der Mann bemerkt, wer da eigentlich vor ihm sitzt, fängt er fröhlich an zu grinsen. Er hilft dem ehemaligen Reporter in den Stuhl und schiebt ihn davon. Ich verliere die beiden aus den Augen, hole meine Koffer. Zehn Minuten später sehe ich die beiden wieder. Okerlund tippt auf seinem Handy herum. Sein Begleiter grinst noch immer.
San José und auch Santa Clara liegen rund eine Autostunde von San Francisco entfernt, mitten im Zentrum des Silicon Valley. Hier entwickeln und forschen Weltunternehmen für die Zukunft. Zahlreiche IT- und Technologie-Firmen sind hier angesiedelt. Intel, McAfee oder Whatsapp.
San José ist auch für seine florierende Kunstszene bekannt. Im Cultural- und SoFa-District (South First Area) tummeln sich Töpfer, Maler und Musiker. Ein Atelier und ein Architekturbüro steht neben dem anderen. Wenige Tage vor "Wrestlemania" trifft jedoch ein ganz anderes Völkchen in San José ein. Tausende Wrestling-Fans sammeln sich in der beschaulichen Stadt, in der rund eine Million Menschen leben. Bevor die Show am Sonntag in Santa Clara stattfindet, treffen sich viele beim Fanfest im "San José Convention Center" – mitten im Herzen von Downtown.
"Wrestling ist doch barbarisch"
Bevor ich mich nach der langen Reise schlafen lege, statte ich der Eventhalle einen Besuch ab. Riesige Wrestling-Plakate hängen davor. Sie zeigen die Stars Brock Lesnar, Roman Reigns, John Cena und natürlich die Legende Hulk Hogan. Davor tummeln sich zahlreiche Fans. Die Leute tragen Klamotten mit Wrestling-Slogans wie "U Can’t C Me" und haben sich nachgemachte Titelgürtel umgeschnallt. Ein großer Merchandise-Truck verkauft die Artikel. Ein T-Shirt für rund 27 Euro, ein originalgetreu nachgemachter Gürtel kostet sogar rund 300 Euro.
Zuletzt siegt doch die Müdigkeit. Ich schlendere in Richtung Motel, doch vorher muss ich etwas essen. Ich gehe in ein Diner, eine etwa 50 Jahre alte Frau setzt sich an den Tisch neben mich. Sie kommt aus Kanada, ist Malerin und will die Museen in San José besuchen. Als ich ihr erzähle, dass ich wegen "Wrestlemania" da bin, schüttelt sie den Kopf: "Wrestling? Das ist doch barbarisch." Mit so etwas könne sie nichts anfangen. Ich wechsle das Thema. Aquarellmalerei. Ist zwar nicht ganz mein Interessensgebiet, aber wieso nicht?
Wenig später habe ich aufgegessen, bezahle meine Rechnung. Ich verabschiede mich von der Dame und verlasse das Diner. Dass die Barbaren bereits eingelaufen sind, habe ich ihr verschwiegen.
Unser Redakteur Andreas Maciejewski ist live bei "Wrestlemania 31" in San José, Kalifornien vor Ort. Er begleitet seine Reise auch auf Twitter – hier können Sie ihm folgen.
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