- Für das neue Doppel-Album "Werdegang" hat Heinz Rudolf Kunze Songs aus vier Jahrzehnten jungen Produzenten anvertraut – und singt jetzt sogar mit Autotune.
- Im Interview spricht er auch über seine jüngst erschienene Autobiografie, digitalen Musikkonsum und die Spaltung der Gesellschaft
Herr Kunze, Sie haben selbst schon Podcasts produziert, Gespräche mit Musikern veröffentlicht, auch ein Interviewbuch mit Egon Krenz. Führen Sie lieber Interviews, als welche zu geben?
Heinz Rudolf Kunze: Manchmal führe ich sie gerne – und dann auch wieder nicht. Die Idee, in einem Podcast Interviews zu führen, entstand in der Corona-Zeit. Zu all den Leuten, die ich da interviewt habe, sind wir hingefahren, auch um einfach mal die eigenen vier Wände für eine kurze Weile zu verlassen, wenn man schon nicht auf Tour gehen darf. Als ich dann aber das Gefühl hatte, dass die Fragerei in meinem Podcast zur Routine wurde, habe ich damit erst mal Schluss gemacht. Das kann beim Geben von Interviews allerdings genauso passieren.
In Ihrer gerade erschienenen Autobiografie "Werdegang" sieht man Sie auf einem Foto beim Interview mit
Im Fall von Neil Young war es das ganz bestimmt. Es schmeichelt natürlich auch dem eigenen Ego, wenn man die Gelegenheit hat, so einem "Gott" Fragen stellen zu dürfen. Wenn sich dann auch noch herausstellt, dass dieser Gott kein abgehobener, sondern im Gegenteil sehr netter Kerl ist, ist es doppelt schön.
In der TV-Show "Das musikalische Quintett" haben Sie früher neue Veröffentlichungen zum Teil sehr harsch kritisiert. Wie gut haben Sie es ertragen, wenn Ihre Alben kritisiert wurden?
Das muss ich ertragen können und es ist mir auch oft genug passiert. Vom ersten bis zum einundvierzigsten haben meine Alben immer schon polarisiert. Manche Leute loben es in den Himmel, andere verteufeln es – das bin ich gewohnt. Am Anfang der Karriere irritiert es einen noch, aber mit der Zeit lernt man, dass es einen in keiner Weise beeinflusst. Es gibt diese schöne Musikerweisheit: Glaube nie den schlechten Kritiken, sonst fängst du irgendwann an, auch den guten Kritiken zu glauben. Die Leute können schreiben, was sie wollen, entscheidend ist der Hörer und die Hörerin.
Wie angenehm war für Sie die rückblickende Beschäftigung mit Ihrem Werdegang für Ihr neues Buch?
Mir hat dabei mein Freund und Co-Autor Oliver Kobold geholfen, der mich für das Buch verhört und ausgeforscht hat, nur so war mir das überhaupt möglich. Alleine hätte ich es nicht ertragen, es wäre mir peinlich gewesen, mich monatelang nur mit mir selbst zu beschäftigen. Psychisch war es mitunter anstrengend: Die vier Tage Interview, die den Kern des Buches ausmachen, waren schon eine Art Gehirnwäsche. Sobald man die Erinnerungsmaschine angeworfen hat, tauchen Bilder auf, die man eigentlich vergessen hatte und es kommen hinter dem Horizont wieder Dinge zum Vorschein, von denen man gar nichts mehr wusste.
Für Ihr Doppelalbum "Werdegang" haben Sie 24 Lieder aus 40 Jahren Karriere ausgewählt und neu aufgenommen. Wie schwer fiel Ihnen die Auswahl?
Wenn man so viele Songs geschrieben hat wie ich, ist es natürlich extrem schwierig, eine Auswahl zu treffen. Ich habe daher auch 1.500 Fans um ihre Meinung gebeten und sie mit abstimmen lassen. Allerdings war das Votum der Fans nicht sehr überraschend und hat sich dann vor allem auf CD 1 niedergeschlagen. Bei der zweiten CD habe ich mitentschieden, welche Stücke draufkommen.
Es heißt, dass die Produzenten, die an "Werdegang" mitgearbeitet haben, musikalisch freie Hand hatten.
Richtig. Erstmal habe ich mich sehr gefreut, dass die jungen Kollegen überhaupt Lust hatten, sich diese alten Kamellen vorzunehmen. Und dann habe ich zu ihnen gesagt: "Macht mit den Songs, was ihr wollt, krempelt sie bitte so um, wie ihr sie mögt." Da haben sie sich die Hände gerieben – und mich mit ihren Versionen wirklich sehr überrascht. Aus dem rockigen Gassenhauer "Wenn du nicht wiederkommst" wurde jetzt eine zarte Ballade, "Alles was sie will" klingt erstaunlich anders ...
... und in Ihrem Hit "Dein ist mein ganzes Herz" hört man Ihre Stimme plötzlich mit Autotune-Effekt.
Das ist aber wirklich nur ein kurzer Moment. Wenn man mit diesem Effekt zwei Songzeilen ein bisschen nach Comedian Harmonists klingen lässt, finde ich das in Ordnung. Es gibt aber auch Künstler, die nicht singen können und deswegen Autotune ein ganzes Konzert hindurch benutzen, so etwas finde ich dann pervers.
In dem neuen Song "Wenn es vorbei ist" singen Sie über eine Zeit nach der Pandemie. Das Wort "Corona" sparen Sie dabei allerdings aus – weil Sie es selbst nicht mehr hören können?
Ich benutze es nicht, weil ich es nicht brauche. Auch ohne wird jedem klar, worum es geht. Außerdem hat der Song so einen größeren Allgemeinheitswert und kann auf andere Bereiche übertragen werden.
Was die Komposition betrifft, haben Sie mit verschiedenen Produzenten und Bandmusikern zusammengearbeitet. Wie ist es beim Texten, haben Sie sich für manche Songs Co-Autoren gesucht?
Nein, nie. So etwas finde ich auch komisch, insbesondere wenn Künstler großmäulig im Interview erzählen, sie würden nur singen, was ihnen persönlich auf der Seele brennt, den Text aber fünf andere geschrieben haben.
Im Deutschpop ist es heutzutage ein gängiges Modell, dass hinter einem Hit ein ganzes Team von Textdichtern steht.
Gängig, aber schrecklich. Das sorgt weiterhin dafür, dass das Niveau der Texte in diesem Land über weite Strecken eher niedrig bleibt.
Weil viele Köche den Brei verderben?
Ja, sicher. Wenn mehrere Menschen zusammen texten, kann dabei nur seelenlose Fließbandware herauskommen. Texten ist eine Sache, die sich in einem Gehirn abspielt. Oder können Sie sich einen Goethe vorstellen, der mit Schiller gemeinsam schreibt? Ich nicht. Schreiben ist eine absolut einsame Angelegenheit, sonst gäbe es die Weltliteratur nicht, die wir haben.
Von Ihnen liest man, dass Sie pro Jahr mehrere Hundert Texte schreiben.
2020 waren es 651 Songtexte.
Und wie viele davon haben Sie veröffentlicht?
Gar keinen. Die Texte sammle und archiviere ich und mache mir dann das Leben richtig schwer, eine Auswahl für das nächste Album zu treffen. Das ist aber natürlich ein Luxusproblem.
Bei 600 Texten im Jahr reden wir dann also von insgesamt mehreren Tausend Texten, die Sie in der Schublade haben?
Das ist korrekt.
Was passiert mit denen, die Sie nicht für ein Album auswählen?
Die werden archiviert – physisch und digital – und warten auf das Schiller-Archiv in Marbach, wenn ich irgendwann mal nicht mehr bin. Was soll ich denn anderes tun? Ich darf ja nur alle zwei Jahre ein Album veröffentlichen, ansonsten, so heißt es, verstopft man sich den eigenen Markt. Insofern bleibt mir nichts anderes übrig, als in den sauren Apfel der Kreativität zu beißen, wieder und wieder. In den goldenen 80er-Jahren war es noch möglich, ein Album pro Jahr zu veröffentlichen, aber diese Zeiten sind lange vorbei. Heute weigern sich die Plattenfirmen, mehr herauszubringen und sie werden dafür ihre Gründe haben.
Ihre Karriere begann in einer Zeit, in der die Musikindustrie noch blühte.
Ja, damals bestand die Möglichkeit, als Musiker irgendwann zu erkennen: Das ist nicht nur eine Episode, sondern kann mein Lebensweg sein, ich muss nicht zurück ins bürgerliche Leben, sondern kann ein Leben als Künstler führen. Diese Entscheidung heute zu treffen, dürfte hundertmal schwieriger sein.
Der Verkauf von CDs ist eingebrochen, viele Menschen konsumieren Musik heute digital.
Mir nützt es nichts, wenn ich gestreamt werde, dadurch verdiene ich nichts. Streaming ist für mich Diebstahl, Enteignung.
Ich hätte vermutet, ein Künstler mit einem so großen Backkatalog wie Sie hat auch nennenswerte Streaming-Einnahmen.
Die Abrechnungen sprechen eine andere Sprache, da reden wir von Cent-Beträgen. Das ist nicht zu vergleichen mit dem, was man mit einer CD verdient. Abgesehen davon ist es für mich eine seltsame Form der Musikvermittlung: Ich kann mir nicht vorstellen, Musik zu lieben, die ich nicht auch besitzen möchte. Dieses Ungegenständliche, Unhaptische stößt mich ab. Ich bin ein leidenschaftlicher Sammler von Büchern und Tonträgern, ich möchte die haben, aus dem Regal nehmen können. Ein gegenstandsloses Verhältnis zu Musik kann ich mir für mich überhaupt nicht vorstellen.
Die Corona-Zeit hat Kulturschaffenden viel abverlangt. Hat sich dadurch in der Musikbranche ein stärkerer Zusammenhalt entwickelt?
Nein, das habe ich nicht wahrgenommen. Es gibt natürlich so etwas wie Künstlerfreundschaften, aber es gibt auch Rivalitäten, Abneigungen, wie in jeder anderen Berufsgruppe auch. Das Konkurrieren um den gleichen Markt hatte bislang immer die Konsequenz, dass es nie eine wirkliche Solidarität unter Künstlern gab. Von einer Sammelbewegung habe ich in der Corona-Zeit jedenfalls nichts mitbekommen.
Sie selbst haben vor ein paar Monaten Kritik an
Wenn Nena beschließt, ihr eigenes Publikum zu enttäuschen, indem sie dafür sorgt, dass ihre Konzerte abgebrochen werden, ist das ihre Entscheidung. Doch wenn ihre Vorgehensweise dazu führt, dass Veranstalter keine Lust mehr auf Veranstaltungen haben, weil sie den Künstlern nicht mehr trauen können, dann ist es nicht sozial ihren Kollegen gegenüber. Das habe ich kritisiert.
In Ihrer Autobiografie erzählen Sie an einer Stelle, wie Sie 1985 mit Nena in einem Taxi zu einem Wohltätigkeitskonzert fuhren. Sie waren damals Teil des Projekts "Band für Afrika" - sehen Sie für eine solche Aktion à la "Live Aid" in der heutigen Zeit noch Potenzial?
Nein, ich sehe dafür überhaupt kein Potenzial, weil sich die Musiklandschaft weiter atomisiert und aufgesplittert hat und die Künstler immer vereinzelter werden. Wir haben das damals im Übrigen auch nicht fortgeführt, weil wir so viel Gegenwind bekamen und verspottet wurden von zynischen Teilen der Medien, die uns vorwarfen, wir wollten uns mit Charity nur ins Rampenlicht drängen. Nein, die Fähigkeit zu Solidarität nimmt ab – so wie die ganze Gesellschaft immer mehr aufsplittert.
Von der Spaltung der Gesellschaft wird in diesen Tagen viel gesprochen. Wie beobachten Sie das aus Künstlerperspektive?
Wenn ich mir die Entwicklung der langsam vor sich hin faulenden westlichen Demokratien anschaue, macht mir das große Sorgen. Demokratie ist nichts Selbstverständliches, sondern muss immer wieder neu durchdacht und neu gelebt werden. Ich sehe die große Gefahr, dass die Menschheit sich auf chinesische Verhältnisse zubewegt, also Wohlstand ohne Demokratie.
Welche Anzeichen sehen Sie dafür hierzulande?
Mangelnde Bereitschaft und Fähigkeit zur Solidarität, überwuchernde Eigeninteressen, Partikularinteressen, jeder gegen jeden, gedankliche Hexenjagd auf Andersdenkende, das sind alles keine guten Signale. Wir leben in einem digitalen Mittelalter.
Das klingt düster. Haben wir nicht einen hohen Grad von Meinungsfreiheit in Deutschland?
Sicher, aber den haben wir bald nicht mehr, wenn wir so weitermachen. Wenn zum Beispiel Leute an den Hochschulen oder in den Medien ihre Jobs verlieren, weil sie den Genderterrorismus nicht mitmachen wollen – das ist für mich das Gegenteil von Respekt, Achtung und Freizügigkeit.
Aber ist nicht "Genderterrorismus" ein viel zu hartes Wort?
Man kann sehr wohl andere Lebensformen achten, respektieren und tolerieren und trotzdem nicht gendern. Wenn Sie dann aber mit Menschen konfrontiert sind, die Gendersternchen als Machtmittel benutzen, um Sie zu denunzieren, stigmatisieren und auf den Scheiterhaufen zu stellen, dann muss man sich wehren. Das Gendern ist ein Kampfmittel geworden und kein Ausdruck von Toleranz. Die Leute können ja gendern wie sie möchten, nur sollen sie es anderen nicht aufzwingen oder gar mit Repressalien drohen, wenn sie nicht gendern.
Befürworter der geschlechtergerechten Sprache führen an, dass sich Sprache stets weiterentwickelt.
Natürlich ist Sprache ein lebendiger Organismus und entwickelt sich weiter, aber das kommt von unten und wird nicht von oben erzwungen und verordnet. Der überwiegende Teil der Bevölkerung findet das Gendern idiotisch und wird es auch nicht mitmachen – es sei denn, man wird dazu gezwungen.
Zum Schluss noch eine Frage zu einer Buchpassage: Sie schreiben in "Werdegang", um die Jahrtausendwende hätten Sie mit Ihren Albumveröffentlichungen "kommerzielle Selbstschädigung" begangen. Wie ist das gemeint?
Zu der Zeit hatte ich eine längere Phase, in der ich experimentiert habe, so sehr, wie es niemand anderes im Deutschrock jemals gewagt hätte. Zum Beispiel auf dem Album "Korrekt", wo ich mit "Die Peitschen" eine elfminütige Elektronikorgie aufgenommen habe. Textlich gab es immer einen roten Faden, aber musikalisch war ich wahrscheinlich das radikalste Chamäleon im Deutschrock und habe mit allen möglichen Formen der Populärmusik seit den 50er-Jahren geflirtet. Damit habe ich es den Plattenfirmen schwerer gemacht, mich zu verkaufen, weil ich eben kein Waschmittel war, das immer gleich ist.
Aber Sie selbst waren mit sich und dem Experimentieren im Reinen, oder?
Ich wollte eine Zeit lang nicht mehr Solokünstler sein, sondern viel mehr als Sänger in meiner Band verschwinden. Im Rückblick sehe ich das als Problem, aber damals habe ich damit meine Neugier befriedigt. Das musste schon so sein, ich will auch kein Album leugnen oder unter den Teppich kehren. Nur sage ich mir aus der heutigen Perspektive: Hätte ich doch damals mehr gute, normale, wertige Lieder geschrieben, die den Leuten etwas sagen.
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