It's the most wonderful time of the year. Oder wie wir aus der Generation Y sagen: Die Zeit im Jahr, in der wir aus den Metropolen der Welt, in die wir uns auf der Suche nach urbaner Freiheit und größtmöglichem Erlebnishorizont wahlbeheimatet haben, zurückkehren in unsere alten Kinderzimmer in den Häusern unserer Eltern.
In diesem Kinderzimmer stapeln sich zwar inzwischen nicht mehr deine Lieblingsklamotten, deine Vinyl-Schätze und dein halber Schulrucksack liegt auf dem Boden, sondern Langlaufskier, Golfbags, seit Jahren nicht benutzte Sportgeräte und allerlei anderer Kram, den deine Eltern sich angeschafft haben, als die Kinder "aus dem Haus waren", wie man so sagt, aber dann eigentlich nie wirklich benutzten, aber das Gefühl ist immer noch dasselbe. Eine melancholisch-schaurige und gleichzeitig wunderschöne Melange aus Erinnerungen an die schönsten Tage der Kindheit und Jugend sowie dieser unstillbaren Sehnsucht nach mehr, nach dem großen Abenteuer Leben, das irgendwo da draußen auf dich wartet.
Und während man sich an den traditionellen Köstlichkeiten labt, die zur Weihnachtszeit im Stundentakt dargeboten werden, als hätten deine Eltern über die Feiertage eine zehnköpfige Küchencrew engagiert, die rund um die Uhr Grüße aus der Küche ins Ess- und Wohnzimmer schicken lässt, hofft man, dass dieser eine bestimmte Onkel vielleicht dieses Jahr woanders feiern muss, weil man schon weiß, er zieht dich wieder gnadenlos in eine Diskussion über Corona, die Grünen, Cancel Culture und den Nahostkonflikt, um stolz zu präsentieren, dass er über sehr viel Meinung, sehr viel Sendungsbewusstsein und umgekehrt proportionalem Wissen dazu verfügt.
Weihnachten wäre vermutlich perfekt, wenn man für vier Tage ausschließlich über Geschenke, Essen und Fußball reden dürfte.
All I want for christmas is a reparierter Drucker
Am Ende hat man schon am Abend des 23. Dezember "nur mal so nebenbei, wenn du mal Zeit hast, draufzuschauen" das iPhone der Mutter, das neue Smart-TV im Wohnzimmer, den Router auf der Gäste-Etage und die Ladestation in der Garage neu konfiguriert oder eingerichtet und fragt sich, ob in allen Bedienungsanleitungen von Elektro-Produkten, die von Eltern gekauft werden, immer einfach nur steht: "Egal, warten Sie, bis ihre Tochter das nächste Mal da ist."
Zwischendurch trifft man sich mit alten Schulfreunden, denen man unterjährig höchstens mal per WhatsApp zum Geburtstag gratuliert, wenn man sein Facebook-Passwort vergessen hat und deswegen immer mal wieder random Geburtstags-Erinnerungen per Push-Nachricht auf das Handydisplay gespült bekommt, weil man das irgendwie immer so gemacht hat. Eigentlich hat es keinen Wert, sich einmal im Jahr hektisch in die Arme zu fallen, sich an die schönen gemeinsamen Erlebnisse von früher zu erinnern, während sich alle Beteiligten fragen, wie toll das damals wohl wirklich gewesen ist, wenn man nach dem Abi einfach so schnell wie möglich weg von allem wollte – die meisten Freunde mit eingeschlossen.
Bei mir persönlich kommt noch hinzu, dass ich, bis ich 14 Jahre alt war, nur wenige enge Freunde und fast gar keine sogenannten Bekannten hatte. Ich hatte meine drei, vier besten Freunde, die ich bis heute habe, auch wenn wir auf der Welt verstreut leben – und das reichte mir. Ich hatte nie ein Handy-Telefonbuch mit 150 Nummern von irgendwelchen Leuten, mit denen man mal ausgehen, ins Kino, auf Partys oder zum Dom gehen könnte. Dom, so nennt man nicht nur große Kirchen, sondern in Hamburg, wo ich aufgewachsen bin, auch die Kirmes.
Das führte dazu, dass ich den größten Teil meiner Kindheit und Jugend eher als schüchtern und unnahbar galt. Als jemand, der in seiner eigenen Welt lebte und nicht so spontan und gesellig war, wie die meisten anderen. Als ich 14 Jahre alt war, wurde ich vom Chef einer großen Modelagentur auf der Mönckebergstraße angesprochen, begann ein wenig als Model zu arbeiten und gewann dadurch quasi über Nacht an Profil in meiner Bubble, die man damals noch Clique nannte.
Die Mitschüler und Nachbarn, die mich bislang für eine Eigenbrötlerin hielten, sahen mich plötzlich auf Plakaten an Bushaltestellen oder in Magazinen. Das weckte bei vielen einen ad hoc Impuls, dringend mit mir befreundet sein zu wollen, den ich schon damals für latent unangenehm hielt. Warum also mit genau diesen Leuten für einen Tag im Jahr zusammenkommen und so tun, als hätte man immer schon die größten Geheimnisse und Erlebnisse geteilt, nur weil man zufällig im selben Alter auf dieselbe Schule ging?
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Nur nicht zu viel nachdenken
Viel Zeit, darüber nachzudenken, lohnt es sich allerdings nicht zu investieren, denn es gibt im Grunde keine Antwort darauf. Menschen, die wir schon ewig kennen, sind uns auf skurrile Weise näher als andere, selbst wenn man sie schon damals eher anstrengend fand. Da ist es fast zielführender, auf ein anderes Phänomen dieser beschaulichen Dezembertage zu blicken.
Das Finale eines weiteren 12-monatigen Feldversuches, ein möglichst sorgenfreies Leben zu führen, ohne dabei zu vielen Menschen nachhaltig auf die Nerven zu gehen, endet traditionell auch mit vielen Jahresrückblicken. Ich persönlich plane auch einen, den Sie dann kommende Woche, pünktlich zum Post-Silvester-Kater hier lesen können. Aber auch andere widmen sich diesem retrospektiven Abenteuerland der Zweitverwertung.
Der will doch Nuhr spielen
Nuhrs reaktionäre Stammtisch-Parolen für seine Fanbase aus besorgten Bürgern, PEGIDA-Altlasten und Erdkundelehrern gelten bei sogenannten Selbstdenkern als letzte radikale Bastion gegen Cancel Culture, insbesondere im total linksgrünversifften Öffentlich-Rechtlichen-Rundfunk, von Kennern gerne ÖRR genannt.
Radikal ist bei Nuhr am Ende jedoch bisweilen lediglich sein Urvertrauen darin, dauerhaft ein bildungs-labiles Publikum hinter sich zu wissen, das schenkelklopfend in seiner intellektuell unmöblierten, heilen Welt sitzt und sich vortrefflich als Claqueure der Belanglosigkeiten rekrutieren lässt. Das zeigt sich unter anderem sehr plakativ in der Tatsache, dass genau die Klientel, die den ÖRR als Abschaffungsorgan für die Meinungsfreiheit identifiziert hat, sich ihre von Dieter Nuhr auf einfachstem sprachlichem Level für sie vorkonfektionierten "kritischen Meinungen" genau dort abholen, wo man seine kritische Meinung nicht mehr sagen darf: in Nuhrs wöchentlicher ÖRR-Show.
Wobei man gleichzeitig neidlos anerkennen muss: Nuhr ist ein Virtuose auf der Geige der kognitiven Niedrigschwelligkeit. Kaum jemand beherrscht es so wie er, aus jeder Situation den Super-GAU herauszukitzeln. Den größtmöglichen anzunehmenden Empörungsfall. Egal wo er ist oder was er macht, Nuhrs wacher Social Media Geist ist stets bereit, via Facebook-Fotoalbum die nächste wissenschaftliche Evidenz frei Haus zu liefern, dass "die da oben" einfach strohdumm sind und die woken Intelligenz-Allergiker bei den Grünen lieber mal einen Schulabschluss machen sollten.
Findet er auf seinen Reisen irgendwo in Venedig eine Gracht mit ausreichendem Wasserstand, posiert er stolz in seinem "Sportlehrer, aber der Coole"-Lederjäckchen und kommentiert sowas wie "Hmmm, komisch, gar keine ausgetrockneten Flussbetten hier, macht der Klimawandel Pause?". Steht er eine Woche später vor einer schneebedeckten Dorfkulisse, setzt er erneut sein gewinnendes Lächeln auf und untertitelt den dabei nach fünf Stunden Lichtprobe entstandene Spontan-Schnappschuss mit "Wo ist die globale Erderwärmung jetzt?".
Allein, dass Nuhr es zuverlässig im Wochentakt schafft, mit nur einem einzigen Foto plus einem einzigen grenzdebilen Satz die komplette Riege der selbsternannten Vollzeit-Generalexperten in seinem Auditorium dazu zu bringen, apodiktisch davon auszugehen, das mit diesem sogenannten Klimawandel wäre alles Kokolores und Luisa Neubauer wäre freitags mal lieber zur Schule gegangen, muss man zweifelsfrei anerkennen.
Derart zuverlässig und reichweitenstark liefert kaum ein anderer. Das wird ein grandioses neues Jahr und ich freue mich schon jetzt auf seinen absoluten Höhepunkt: Dieter Nuhrs Jahresrückblick 2024.
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