Wäre E-Chauffieren die elektronische Variante von Chauffieren, gäbe es weniger Geisterfahrer im auch diese Woche wieder auf sehr abenteuerlichem intellektuellem Niveau hochtemperierten Schlachtfeld der Social-Media-Kommentarspalten. Leider geht es bei eben jenem Echauffieren weniger um Fortbewegen, zumindest nicht um geistiges, sondern beinahe ausschließlich um die Lust am Niedermachen.
Die Cyber-Mistgabeln hysterisch in den Himmel gereckt stürmen sie – bewaffnet mit ihren Tastaturen – die Diskurse im Netz und erläutern mit sehr hohem Lautstärkepegel und sehr niedrigem Vernunftreservoir, was andere alles falsch machen. Vor allem falsch ist, wenn andere etwas kritisieren. Natürlich nicht, wenn man derselben Auffassung ist. Dafür um so vehementer und ungezügelter, sollte man auf eine konträre Meinung treffen.
Insgesamt ist das größte Debatten-Phänomen der letzten Jahre nach wie vor – katalysiert durch Flüchtlings-"Krise", Corona-Pandemie und Ukraine-Krieg – der bemerkenswerte Mangel an der Fähigkeit, extrem wichtige demokratische Errungenschaften wie Meinungsfreiheit vernünftig einordnen zu können. Noch immer, oder womöglich sogar mehr als je zuvor, kärchern gesinnungswackere Ideologievertreter mit ihren Meinungen kompromisslos durch jede Gesprächsrunde – von Plauderei bis Kolloquium.
Dabei verkünden sie dann ihre Weisheiten mit größerer Verve als ein handelsüblicher Salesbeauftragter auf dem Hamburger Fischmarkt seine Aale und werten es anschließend als persönliche Beleidigung, sobald ihnen mit Kritik begegnet wird. Hier zeigt sich in seiner schmerzlichen kognitiven Brutalität, wie diskursentzaubernd sich die landläufig immer häufiger auftretende Fehleinschätzung auf die gesunde Diskussionskultur auswirkt, Meinungsfreiheit würde in erster Linie bedeuten, man dürfe seine Meinung sagen und niemand dürfe dieser dann widersprechen. Schon gar nicht vehement.
Empörungs-Katalysator Sahra Wagenknecht
Cruist man in diesen Tagen durch Twitter, Facebook, Instagram oder die Kommentarspalten der Nachrichtenseiten, wird man hineingesogen in eine Melange aus Precht, Welzer, Buchmesse, Niggemeier, Mateschitz, Kurz, Wagenknecht, Lindner und vieler anderer der üblichen Verdächtigen – vor allem aber in einen Stellungskrieg der Lager. Wenn Sahra Wagenknecht erläutert, die Grünen wären die gefährlichste Partei im Bundestag, schlagen die Emotionen hoch. Breitem Unsinn, das bringt das vorlaute und unverbesserliche zu Markte tragen absurder Thesen zwangsläufig mit sich, folgt noch breitere Gegenrede. Im beispielhaften Fall von Sahra Wagenknecht, die in den vergangenen 18 Monaten einen spektakulären beruflichen Karriere-Booster von Randfigur der Linken über Virologin, geopolitischer Koryphäe, Militärstrategin, Wahrsagerin ("Putin hat kein Interesse an der Ukraine"), Offene-Briefe-Schreiberin bis hin zur PR-Managerin der Putin-Propaganda hingelegt hat, selbstverständlich auch.
Aus allen Parteien (außer der AfD), aus allen Medien (außer dem Axel Springer Verlag) und aus allen Lagern (außer dem rechtsextremen). Wer hier zwischen AfD, Springer und rechtsextremen Tendenzen übrigens jetzt eine Analogie herleiten möchte, der macht sich die sogenannte Kontaktschuld zu eigen, denn selbstverständlich ist man nicht gleich ein Nazi, wenn man dieselben Standpunkte vertritt wie ein Nazi. Man ist ja auch nicht gleich ein Querdenker, wenn man Querdenker-Thesen verbreitet. Manchmal ist man beispielsweise auch einfach nur Recherche-Chef bei einer unglücklich versehentlich ins rechte Milieu abgerutschten ehemals großen Tageszeitung.
Da sind doch die Grünen dran schuld!
Die Kritik jedenfalls kam postwendend und gleichsam erwartbar wie vermutlich kalkuliert.
Der Jubel aus der Rechts-Bubble ließ nicht auf sich warten. Die Richtigstellung aller noch halbwegs zur Vernunft tendierenden anderen ebenfalls nicht. Und so entwickelte sich auch diese Woche erneut ein lehrbuchartiger Exkurs in die Hochphilosophie der Meinungsfreiheit. Wer nämlich die Meinung von Frau Wagenknecht kritisierte, dem wurde von zahllosen Troll-Accounts und hilflosen Westentaschen-Libertären wortreich erläutert, man wolle wohl die Meinungsfreiheit abschaffen und unliebsame Standpunkte eliminieren. Und genau hier zeigt sich das eindeutigste Symbol der Meinungsfreiheit und gleichzeitig Dilemma dieser schönen neuen Internet-Zeit: Jeder, der begabt genug ist, sich eine LAN-Verbindung einzurichten, darf an jedem Diskurs teilnehmen. Selbst, wenn er glaubt, dass Kritik an seiner oder der von ihm präferierten Meinung den Tatbestand der Abschaffung der Meinungsfreiheit bedeute.
Da ist ein "Mein" in Meinungsfreiheit
Oft schon wurde es postuliert und doch ist es leider wichtiger als je zuvor, endlich flächendeckend zu begreifen: Meinungsfreiheit bedeutet, dass jeder – in diesem Beispiel etwa Sahra Wagenknecht – seine Meinung sagen darf. Niemand wird dafür festgenommen und in Gefängnisse verschleppt, wie zahlreiche nicht in Worte fassbar mutige Menschen aktuell im Iran, die dort wirklich für ihre Freiheit kämpfen. Keinesfalls bedeutet Meinungsfreiheit jedoch, dass absolut jeder absolut jede abstruse, faktenbefreite, demagogische (Entschuldigung) Scheiß-Meinung gefälligst kritiklos hinzunehmen habe. Die Meinung ist frei. Die Fakten sind es nicht.
Oder um die offizielle Definition zu bemühen: Meinungsfreiheit, genauer Meinungsäußerungsfreiheit, ist das gewährleistete subjektive Recht auf freie Rede sowie freie Äußerung und (öffentliche) Verbreitung einer Meinung in Wort, Schrift und Bild sowie allen weiteren verfügbaren Übertragungsmitteln. Dies umfasst jedoch nicht die Äußerung von nachprüfbaren Unwahrheiten.
Inzwischen haben jedoch die von ihrer eigenen Unfehlbarkeit berauschten Selbstdenker den Weg aus ihren versifften Telegram-Gruppen gefunden und stürzen sich zahlreich, hemmungs- und niveaulos sowie der Unterstützung eines breiten Troll-Heeres von Diskurs-Bots in die Meinungskorridore, denen sie dann reflexartig eine Verengung durch linksgrünversiffte Woke-Wahnsinnige attestieren, sobald jemand ihre Meinung nicht teilen möchte.
Der Prechthaber Lanz
Klar, da ist ein "Mein" in Meinung, aber das sollte nicht überinterpretiert werden.
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Sind Sie auch schon so gespannt darauf, welcher Take das Rennen machen wird? Welcher politische Rezeptvorschlag von Sahra Wagenknecht wird Echauffierungs-Weltmeister der kommenden Kalenderwoche? Oder gibt es einen Überraschungssieger, von dem wir heute noch gar nichts ahnen, weil er das Buch seiner besten Freundin noch gar nicht offiziell vorgestellt hat? Wir dürfen gespannt bleiben. Die lange Wartezeit bis kommenden Montag möchte ich Ihnen mit einem hübschen und bedauerlicherweise nach wie vor gültigen Zitat von Danger Dan verkürzen: "Faschisten hören niemals auf, Faschisten zu sein Man diskutiert mit ihnen nicht, hat die Geschichte gezeigt". Bis dann!
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