Jeder, der schon einmal ein Konzert besucht hat, weiß das: Live kann manchmal ganz schön anstrengend sein. Vor allem wegen der Leute. Also der anderen. Da ist es eigentlich nur richtig, wenn Bill Kaulitz die Zuschauer bei der Live-Ausgabe des Podcasts "Kaulitz Hills" eigentlich ignorieren will. Aber das Leben ist nun mal live.

Christian Vock
Eine Satire
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Das sind mir ja welche, die Kaulitz Twins. Haben die doch einfach ihren Arbeitsplatz verlegt. Statt aus einem Studio in Los Angeles senden die beiden die neueste Ausgabe ihre Podcasts "Kaulitz Hills" diesmal aus der Elbphilharmonie in Hamburg. Das ist quasi Homeoffice, nur umgekehrt. Das Schöne ist aber vor allem: Sie haben das live gemacht. Ich finde, das ist eine gute Idee und vielleicht können wir uns alle daran ein Beispiel nehmen und diese Idee in unsere eigene Arbeitswelt integrieren.

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Zum Beispiel beim Finanzamt. Na gut, die Bearbeitung einer Steuererklärung ist keine Unterhaltungsshow, aber vielleicht könnte es eine werden. Vielleicht hätten wir ja dann alle mehr Spaß dabei. Eine Live-Darmspiegelung fände ich hingegen zweifelhaft, da stünde bei mir Privatsphäre über der Unterhaltung. Ich denke, mit dieser Priorisierung sind wir bisher gut gefahren.

"Zirkuspferd" Bill und Leute, die nicht das sein sollten

Aber fangen wir erst einmal klein an mit einem Podcast. Der ist ja ohnehin schon für eine Veröffentlichung ausgelegt, da stört es erst einmal nicht, wenn dabei ein paar Leute in einem Konzerthaus zugucken. Wobei Bill beim Prinzip Live-Podcast etwas unsicher ist: Er sei nämlich "ein Zirkuspferd", das einfach die Leute im Saal unterhalten wolle, müsse sich aber für den Podcast diesbezüglich zusammenreißen. "Das Ding ist, ich darf euch ja gar nicht so anreden", wendet sich Bill ans Hamburger Publikum und meint: "Es ist ja so, als ob ihr gar nicht hier seid."

Das ist natürlich eine schwierige Einstellung den Zuschauern gegenüber, die auch noch Geld dafür bezahlt haben, hier und nicht woanders zu sein. Hätte man gewusst, bei einer Live-Veranstaltung nicht da sein zu sollen, hätte man das im Vorfeld ja berücksichtigen können und hätte sich nicht auf den Weg gemacht. Im Nachhinein nicht da zu sein, ist eher schwierig. Die generelle Einstellung Bills, das Live-Publikum zu ignorieren, wäre zudem bereits jetzt das Aus für eine Live-Steuererklärungsbearbeitung.

Aber da sind wir auch schon mittendrin im Problem. Denn wie kann man ein Publikum unterhalten, das zwar da ist, es aber nicht sein sollte, weil man ja eigentlich Unterhaltung für das Publikum macht, das nicht da ist, es aber auch nicht sein wollte oder konnte, die Live-Veranstaltung somit nicht live sieht und hört, also woanders ist? Eine knifflige Angelegenheit, die Bill und Tom mit Licht und Schatten lösen.

"Kaulitz Hills": Wozu noch Fingernägel?

Um in der richtigen Stimmung für die Lösung dieser kniffligen Angelegenheit zu sein, trinken sich die Brüder erst einmal in Live-Unterhaltungslaune. Ein "quirliger Drink" aus dem Internet soll es nach Toms Wunsch werden und der besteht aus Milch, Rotwein, Bier, Zucker, Pfeffer und einem rohen Ei. "Das klingt total widerlich", findet Bill und ich würde ihm eigentlich zustimmen, bin aber bereits bei Milch und Rotwein ausgestiegen. Bei der Kombination von Milch und Rotwein verstehe ich keinen Spaß.

Nun kann man die folgende Unterhaltung natürlich auf den "quirligen Drink" schieben, aber hier wird klar, dass eine Live-Unterhaltung und Live-Unterhaltung nicht dasselbe sind. Die beiden stellen sich nämlich die Frage, ob es "erschreckt" oder "erschrocken" heißt. Da stelle selbst ich die Idee plötzlich infrage, ob mehr Berufe Live-Übertragungen machen sollten. Eine Show namens "Der Duden – live" stelle ich mir jedenfalls schwierig vor.

Als die Brüder im Anschluss die Frage diskutieren, warum es noch Fingernägel oder die Zeitumstellung gibt, wird es nicht nur unterhaltungstechnisch, sondern auch intellektuell unseriös. Ich denke, da hätten sich nicht wenige Zuschauer in der Elbphilharmonie über eine Vorwarnung gefreut, dass sie besser nicht da sein sollen.

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"Herzblatt" und die Milch-Rotwein-Schranke

Interessanterweise ist dann ausgerechnet der Programmpunkt, der zwingend ein Vor-Ort-Publikum erfordert, der schwächste Moment. Hier veranstaltet Tom für seinen Bruder eine Art "Elbphilharmonie-Herzblatt" und das ist für die Nicht-Live-Zuhörer unterhaltungstechnisch irrelevant, denn man sieht die Kandidaten ja nicht. Hier ergibt aber plötzlich der "quirlige Drink" wieder einen Sinn, sofern man bereit ist, die Milch-Rotwein-Schranke zu überschreiten und sich den Drink auf die Schnelle zu Hause nachzumixen. Dann hat man seine eigene Vor-Ort-Unterhaltung, ganz unabhängig davon, was in der Elbphilharmonie passiert.

Das gilt dann auch für große Teile des restlichen Programms, denn hier reden Tom und Bill über Dinge wie Laugenkäsepizzabrötchen, wie man "durch" ausspricht, dass sie den Song "Schrei" lange nicht mehr live gespielt haben, über Käse-Igel, wie lange Kondome haltbar sind oder warum RTL nicht will, dass Bill die neue "Bachelorette" wird. Da wird mancher Zuschauer in der Elbphilharmonie Bill sicher zustimmen, dass für diese Informationen keine Vor-Ort-Anwesenheit erforderlich gewesen wäre.

Aber das Interessante bei Live-Unterhaltungen ist ja, dass es manchmal gar nicht so sehr auf die Unterhaltung ankommt, sondern darauf, dass sie live ist. Und live geht halt immer nur, na ja, live eben. Als Bill auf die Zuschauerfrage, ob es solche Live-Podcasts wieder geben wird, antwortet: "Tom möchte nächstes Jahr gar nicht mehr arbeiten", dann dürfte dementsprechend jeder Live-Liebhaber ziemlich erschrocken gewesen sein – oder auch erschreckt. Auf der anderen Seite: Wenn man Dinge nicht macht, ist es egal, ob das live passiert oder nicht. That's live.

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