Jan Böhmermann verabschiedete sich und sein "ZDF Magazin Royale" am Freitagabend in die Winterpause. Allerdings nicht ohne ein Thema, das schon länger auf seinem Schreibtisch liegt. Schon sehr viel länger: Inklusion. Oder wie es laut Böhmermann eigentlich heißen müsste: Exklusion.
"Das hier ist heute, am Freitag, den 13., das letzte 'ZDF Magazin Royale' dieses Jahres", gibt
Da berichtete nämlich "Der Spiegel", dass die ZDF-Programmdirektorin Nadine Bilke Anfang November nach einem Anruf bei Böhmermann die Ausstrahlung einer Folge gestoppt haben soll. Eigentlich habe es in dieser Folge um "Mind Control", also Gedankenkontrolle, gehen sollen. Die "ZDF Magazin Royale"-Redaktion sei diesem Verschwörungsmythos, wonach Menschen angeblich durch Folter und Missbrauch ein Leben lang gesteuert werden können, und seinem Einzug in Therapien nachgegangen.
Die Redaktion habe sich nach dem Stopp ein neues Thema überlegen müssen, warum die Folge nicht veröffentlicht wurde, ist aber bislang nicht bekannt. Laut "Spiegel" sei die Folge aber "allem Anschein nach sauber recherchiert" gewesen. Verschiedene andere Medien griffen den "Spiegel"-Bericht auf und es ist nicht unwahrscheinlich, dass sich die Sache in den kommenden Tagen aufklärt, denn so ein Vorgehen des ZDF ist doch reichlich ungewöhnlich. Daher kann man guten Gewissens davon ausgehen, dass das Thema der jüngsten Ausgabe so geplant gewesen ist.
Inklusion: "Das sind keine Privilegien, das sind Menschenrechte"
"Ein superwichtiges Thema ist uns einfach durchgerutscht in diesem Jahr", beginnt Böhmermann und fährt dann selbstkritisch fort: "Und auch in den elf Jahren vorher: Inklusion. Heute geht es im 'ZDF Magazin Royale' um Inklusion. Um die Situation von Menschen mit Behinderung in Deutschland."
Der Zusatz "in Deutschland" ist wichtig, denn damit ist klar, dass Böhmermann nicht über Menschen mit Behinderung im Allgemeinen sprechen will, sondern darüber wie deren Lebensrealität in Deutschland aussieht. Dafür sorgt er mit der Definition von Inklusion der Antidiskriminierungsstelle des Bundes erst einmal für eine Diskussionsgrundlage: "Inklusion bedeutet, dass jeder Mensch die Möglichkeit erhalten soll, sich umfassend und gleichberechtigt an der Gesellschaft zu beteiligen."
Mit einem "Ganz Deutschland hat sich zur Inklusion verpflichtet", verweist Böhmermann auf die UN-Behindertenrechtskonvention, die seit 2009 in Deutschland gelte und konkretisiert diese Verpflichtung, zumindest in ihrer ironischen Version: "Das sind keine Privilegien, das sind Menschenrechte: In den Bus einsteigen können, beim Fußball die gegnerische Mannschaft beleidigen, seinen Ehemann betrügen oder beim Klassohm auf Borkum mitmachen. Auch Menschen mit Behinderung sollen ein Recht darauf haben, auf Borkum Frauen gegen ihren Willen mit Kuhhörnern zu verprügeln."
Worin die eigentliche Behinderung besteht
Aber das Thema Inklusion landet ja nicht auf Böhmermanns Schreibtisch, weil sich auch ganz Deutschland an diese Verpflichtung hält, obwohl "jede sechste Person" hier mit einer Behinderung lebe. Und so beginnt Böhmermann, seine Anklageschrift zu verlesen. Beziehungsweise lässt sie Böhmermann verlesen und zwar von Menschen, die von den alltäglichen Situationen berichten, in denen sie aufgrund einer Behinderung eingeschränkt werden.
Die Essenz daraus: Sie werden nicht durch ihre Behinderung eingeschränkt, sondern durch Kommentare, Unaufmerksamkeiten, Versäumnisse, Unüberlegtheiten, Ignoranz, technische Hürden und so weiter. "Menschen mit Behinderungen werden behindert in Deutschland von unzähligen Barrieren, die Menschen ohne Behinderung gar nicht bemerken. Sie werden behindert von ihrer Umwelt", beschreibt Böhmermann diese Essenz.
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Das ist natürlich keine wirklich neue Erkenntnis, für Menschen mit Behinderung erst Recht nicht, und vielleicht ist genau das der Grund, warum das "ZDF Magazin Royale" diesen Umstand in den vergangenen elf Jahren noch nie thematisiert hat: Weil er eine stumme Dauerrealität ist. Oder, weil die Möglichkeit diesen Dauerzustand zu thematisieren, eben auch eine Frage von Inklusion ist. Denn, wie Böhmermann später selbst erklärt, arbeitet niemand in der "ZDF Magazin Royale"-Redaktion, der selbst eine Behinderung hat und deshalb vielleicht bisher keine Sensibilität für das Thema hatte. Böhmermann hat aber zunächst eine andere These.
Jan Böhmermann: "Förderschulen fördern die staatlich organisierte Ausgrenzung von Menschen"
"Inklusion gibt es nicht in Deutschland. Das Wort sagen immer nur alle, Inklusion. Aber was Deutschland für Inklusion hält, ist nichts anderes als: Exklusion. Die Ausgrenzung und Behinderung von Menschen", behauptet Böhmermann und zeigt dann Schlagzeilen von fehlender Barrierefreiheit. Gleichzeitig gebe es Exklusion dadurch, dass Kinder mit Behinderung in separate Schulen gehen "und die machen das exakte Gegenteil von Inklusion", so Böhmermann. "Trotz Verpflichtung zur Inklusion: CDU und FDP für 'Stärkung' der Sonderschulen", zitiert Böhmermann ein Bildungsmagazin.
Diese "Sonderschulen" nenne man der Schönfärberei wegen "Förderschulen", "aber das ist natürlich Quatsch. Förderschulen fördern vor allem eines: die staatlich organisierte Ausgrenzung von Menschen, die es seit 2009 eigentlich in Deutschland nicht mehr geben dürfte", so Böhmermann. In Bremen gebe es aber bereits wirklich inklusive Schulen, also Schulen, in denen alle Kinder gemeinsam unterrichtet werden. In Baden-Württemberg gingen hingegen mehr Kinder auf Förderschulen als noch 2009. Dabei werde die Schulzeit in einer Förderschule meist ohne Abschluss beendet – der Auftakt für eine lebenslange Exklusion.
Menschen mit einer Behinderung würden dann allzu oft in entsprechenden Werkstätten arbeiten, die aber ebenso allzu oft nichts anderes als "billige Produktionsstätten" seien. "Menschen, die behindert werden, sind in Deutschland besonders von Armut bedroht", fasst Böhmermann die Zahlenlage zusammen. Kein Wunder bei "rund 220 Euro pro Monat", die etwa ein Werkstätten-Mitarbeiter bekomme, der Bordwerkzeuge für Porsche herstelle, wie Böhmermann aus einer SWR-Sendung zitiert.
Werkstätten oder "good old Ausbeutung"
Damit werde dauerhaft gegen eine ganze Menge Recht und Gesetz verstoßen und auch das eigentliche Ziel von Werkstätten, die Menschen auf den regulären Arbeitsmarkt vorzubereiten, existiert offenbar nur auf dem Papier. "Einmal Werkstatt, immer Werkstatt", fasst Böhmermann die Lage zusammen. Dabei gebe es für Arbeitgeber eigentlich eine gesetzliche Beschäftigungspflicht für schwerbehinderte Menschen, doch statt die zu erfüllen, könne man als Unternehmen auch einfach eine Strafe zahlen – und diese dann sogar steuerlich geltend machen. Mindestens 16 Dax-Unternehmen würden diese Beschäftigungspflicht nicht erfüllen, so Böhmermann.
Bundesländer, die als Arbeitgeber die Beschäftigungspflicht auch nicht einhalten, aber die Strafen drücken können, wenn sie Aufträge an Werkstätten vergeben. Wahllokale, die nicht barrierefrei sind, weil sie in Schulen eingerichtet werden, die ebenfalls nicht barrierefrei sind. Unternehmen, die in Werkstätten von Menschen mit Behinderung unter Mindestlohn produzieren lassen, oder wie es Böhmermann nennt: "good old Ausbeutung".
Es ist tatsächlich ein sehr exklusives Deutschland, das Böhmermann in seiner letzten Ausgabe des Jahres zeigt. Was er, abgesehen von der "good old Ausbeutung" nicht zeigt, sind die Gründe für diese Exklusion. Das muss er auch nicht, sein Verdienst ist bereits, Inklusion nach elf Jahren endlich zum Thema gemacht zu haben. Aber er hätte gerne einmal ein bisschen spekulieren können. Vielleicht wäre er ja dann auf das "Leistungsprinzip" gekommen, das in Deutschland ebenso irrational wie dauerhaft vorgebetet wird.
Leistungen, die in Deutschland nichts wert sind
So kommt kaum ein Wahlkampfgerede von CDU, CSU oder FDP ohne das Wort Leistung aus. "Leistung muss sich wieder lohnen", man kennt es, freilich, ohne zu definieren, was genau diese Leistung sein soll. Menschen zu helfen, ein Kind groß zu ziehen, die Eltern zu pflegen, ja, zu gucken, dass es allen gutgeht, das sind auch Leistungen, nur primär eben keine ökonomischen – und damit nichts wert in Deutschland. Hinterfragt man dieses Leistungsprinzip, steht dann auch ein Argument für Förderschulen auf dem Prüfstand, wonach diese Schulen den Druck, mit den Klassenkameradinnen ohne Behinderung mithalten zu müssen, auf Förderschulen geringer sei.
Jan Böhmermann hat die Situation für Menschen mit Behinderung in Deutschland beschrieben – so gut und ausgewogen er das in einer halbstündigen Satire-Sendung eben machen kann. Wer dadurch den Anstoß bekommen hat, das Werkstätten- und Förderschulen-System zu hinterfragen: gut. Wer aber nun auch den Impuls verspürt, zu hinterfragen, was das eigentlich für Werte und Versprechen sind, denen wir da so jeden Tag hinterher hecheln: noch besser. Die letzten beiden Freitage des Jahres hat man ja jetzt Zeit für ein paar Gedanken.
Verwendete Quellen
- andererseits.org: Wie Deutschland bei der Inklusion versagt
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