Eisenbahnen, Babypuppen, Hitlerporträts, Schießstände und Dildos: Dokumentarfilmer Ulrich Seidl zeigt, was sich in Österreichs Kellern so alles verbergen kann – und wie Menschen ganz privat ihren Leidenschaften und Obsessionen nachgehen.
Eine unscheinbare Frau, altersmäßig schwer einzuschätzen, schließt sorgfältig ihre Wohnungstür ab und steigt die Treppen hinab in den Keller eines Mehrparteienhauses. Dort bietet sich dem Zuseher kein ungewöhnlicher Anblick: Regale, Kisten, verstauter alter Krempel. Aber die Frau öffnet zielstrebig eine der Kisten – und zieht eine täuschend lebensechte Babypuppe heraus, die sie sanft auf den Arm nimmt. Sie liebkost das falsche Kind, spricht mit ihm, zeigt ihm auf einer Landkarte, wo "der Papa" schon war. Man beginnt sich zu fragen, ob der auch als Puppe in irgendeiner Schachtel liegt.
Ganz normale Keller
Bizarr? Nicht in der Welt von Ulrich Seidls Dokumentarfilm "Im Keller", für den der Österreicher in die Tiefen und Untiefen privater Wohnhäuser eintaucht. Ganz normale Wohnhäuser, möchte man fast sagen – nur dass das, was Seidl dort findet, alles andere ist als das, was wir üblicherweise als "ganz normal" einstufen.
Da sehen wir beispielsweise einen Mann, dessen Interessen offenbar vielfältig sind: Er nutzt eine große Kellerhalle sowohl zu Schießübungen als auch zum leidenschaftlichen Schmettern von Opernarien. Bei Ersterem ist er nicht immer alleine: Er instruiert eine Gruppe von Bekannten über Schusswaffensicherheit und zieht mit ihnen über Ausländer her, die allesamt geistig minderbemittelt sind und außerdem streng riechen. Wie ein Mensch mit solcher Liebe zur hohen Kultur gleichzeitig derart fremdenfeindlich sein kann, erfahren wir nicht.
Blasmusik für den Führer
Dann ist da ein älterer Herr, dessen Keller zunächst wie ein bizarr in der Zeit stehengebliebener Heimatfilm anmutet – bis man in der Ecke ein Hitlerporträt erspäht. Wenig später zeigt der Mann das Herzstück seines Kellers: ein mit Nazi-Devotionalien vollgepackter Raum, in dem liebevoll Hakenkreuzflaggen, Hitlerbilder, Schaufensterpuppen mit SS-Uniformen und andere "Erinnerungsstücke" ausgestellt sind, als wär es eine Pilgerstätte für den Führer.
Es sei ein "gemütlicher Raum", erklärt der Mann, der in sein Museum auch immer wieder Gäste einlädt – zum Beispiel Freunde aus der örtlichen Blaskapelle, mit denen er dort musiziert und ein Gläschen hebt. Man erwartet einen erneuten Schwall der Ausländerfeindlichkeit oder andere rechte Parolen in der Runde, aber stattdessen werden Herrenwitze erzählt und Trinklieder gesungen. "Ein Prosit der Gemütlichkeit" in einer Welt, die ganz von der Geschichte entkoppelt ist.
Gehorsam und Nacktputzen
Und dann ist da noch ein Ehepaar, das in einer extremen SM-Beziehung lebt. Sie kommandiert und bestraft ihn. Er leckt nackt mit der Zunge das Bad sauber und wäscht mit gefesselten Händen und mit Gewichten am Penis das Geschirr ab. "Ja, Herrin" und "Danke, Herrin" sind seine meistgebrauchten Sätze.
Dieser Part findet in der Wohnung statt – in den Keller geht es, so erklärt die Ehefrau, wenn sie "richtig dominant" werden will. Dort zeigt sie eine Sammlung an Sexspielzeugen und zieht ihren Ehesklaven auch mal über einen kleinen Flaschenzug an den Hoden hoch. Dazu passen zwei Sätze: Liebe bedeutet, dass sich die Pathologien zweier Menschen ergänzen. Und: Ein Sadist ist jemand, der lieb zu einem Masochisten ist.
Von Bedürfnissen und Phantasien
Seidl zeigt alle diese Menschen und ihre Tätigkeiten ganz nüchtern, in streng symmetrischen Bildern und porträthaften Momentaufnahmen. Er sieht ihnen zu, lässt sie auch zu Wort kommen, stellt aber keine Fragen. Oft will man als Zuschauer nachhaken, nach dem Warum fragen und Hintergründe erfahren – aber dann ahnt man, dass man es vielleicht doch gar nicht so genau wissen will. Diese Menschen sprechen für sich, und geben kurze Einblicke in ihren privaten Raum, deren Leerstellen sich jeder selber ausmalen muss.
Genau in diesem Ansatz liegt eine der Stärken von "Im Keller": Es ist faszinierend, wie Seidl mit der Andeutung spielt und nach und nach die Türen öffnet. Oft ahnt man noch gar nicht, was sich hinter einer Person verbirgt – der unterwürfige Ehemann zum Beispiel wird zunächst am Arbeitsplatz gezeigt, dann nackt beim Staubsaugen - noch bevor wir von seiner Frau erfahren. Hie und da werden Leute gezeigt, in dessen Kellern sich keine Besonderheiten verbergen: ein Amateurfunker, ein Schlagzeuger. Aber sicher kann man sich da nicht sein.
Die Menschen von "Im Keller" packen das, was nicht akzeptiert wird, in den verstecktesten Teil ihres privaten Raumes – aber dort sehen wir umso deutlicher, wie stark ihre Bedürfnisse sind. Dass hier so vieles unausgesprochen bleibt und jede Andeutung die Phantasie in noch tiefere Kellervorstellungen lockt, zieht uns nicht nur als Zuseher in die Welten der Protagonisten hinein – es regt auch die Frage an, wie es denn mit unserem eigenen Keller aussieht, im wirklichen und übertragenen Sinne. Welche heimlichen Sehnsüchte wir haben, was wir vor unseren Mitmenschen verbergen.
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