Die letzte Folge von "Die Lindenstraße" ist gelaufen, für Mutter Beimer und Co. ist die letzte Klappe gefallen ... oder? Nach 34 Jahren endet die deutsche Kultserie nicht mit einem Knall, aber mit vielen Anspielungen - und einem offenen Ende. Warum wir die urdeutsche Seifenoper selbst dann vermissen werden, wenn wir sie längst nicht mehr geschaut haben.
Spoiler-Alert: Die letzte Folge von "Die Lindenstraße" hat keinen Cliffhanger. Kein Bus, der durch die Straße fährt, keine Fahrradklingel. Stattdessen ein Kameraschwenk hoch über die Straße, über die Stadt – bis hin zu den Alpen. Kein Abschied, sondern ... ein Ausblick?
Jetzt ist also wirklich Schluss. Wir können uns das noch gar nicht richtig vorstellen. Nach 34 Jahren "Lindenstraße" kein "Tüdelüdelüdelüdelüdelüdelüüü"-Cliffhanger am Sonntagabend? Unmöglich!
Ob wir die Serie seit dem 8. Dezember 1985 verfolgen, oder ob wir sie seit fünf, zehn oder fünfzehn Jahren nicht mehr gesehen haben, spielt keine Rolle. Man wünscht ja auch der betagten Großtante nicht den Tod, nur weil man sie schon lange nicht mehr besucht hat.
Wichtig war immer zu wissen: Man könnte sie sehen, wenn man wollte. Und anders als die cooleren Verwandten wäre sie auch für einen da, wenn man sie bräuchte. Den angesagten, ultrahippen Nachwuchs verstehen wir ja doch nicht. Und um die Metapher vollends breitzutreten: Verwandtschaft sägt man schließlich nicht ab, weil sie im Altersheim zu viel Geld kostet.
Hält man sich eine Tür offen in der "Lindenstraße"?
Seltsam normal fühlt sich die letzte Folge an. Es gibt natürlich einige Aufregung um den Tod von Bauunternehmer Lohmaier. Ein bisschen Zickenkrieg zwischen Helga Beimer (
Doch selbst für diesen Anlass schien es nicht gelungen zu sein, die ganze Familie gemeinsam vor die Kamera zu kriegen: Sohn Klaus (
Was für ein trauriges Ende nach 1.758 Folgen, könnte man seufzen. Oder in der unspektakulären Geschichte weise produktionstechnische Voraussicht sehen – und hoffen: Man hält sich die Türen offen. Schließlich ist in der letzten Folge nicht nur ein Lindenstraßen-Ureinwohner Opa geworden - in die Hausnummer 3 sind sogar neue Mieter eingezogen! Und wie sagt Helgas Enkelin in ihrer Geburtstagsrede für die Oma: Solange man neugierig bleibt, bleibt man jung.
"Lindenstraße" ist ein Beleg der eigenen Vergänglichkeit
Wenn wir ganz ehrlich sind, erschreckt uns das Ende der "Lindenstraße" vielleicht ja auch vor allem deswegen, weil es uns an die eigene Vergänglichkeit erinnert. Daran, wie alt wir sind: Als die "Lindenstraße" 1985 anfängt, gibt es eine Bundesrepublik und eine DDR.
Von ein paar regionalen Experimenten abgesehen, gibt es genau zwei Auswahlmöglichkeiten für den Bildschirm: ARD und ZDF. Kein Internet, keine Mobiltelefone - schon gar keine smarten. Die größte Sensation des Jahres vor dem Sendestart ist der Wimbledon-Sieg eines "17-jährigen Leimeners". Die Serie wird ausgelacht, Boris Becker wird gefeiert.
Als die "Lindenstraße" zehn Jahre alt wird, entwickeln deutsche Forscher gerade das MP3-Format, um Musikdateien zu komprimieren und damit massentransportabel zu machen. Michael Schumacher ist erster deutscher Formel-1-Weltmeister geworden, Justin Bieber noch ein Säugling.
Als die Lindenstraße im Januar 2005 ihre 1.000. Folge feiert, ist
Wie Familie, nur hochdosierter
Und heute? Die Welt steht still, und die Deutschen bleiben zu Hause. Sie sitzen in Millionen deutschen Wohnzimmern vor Schrankwänden oder zwischen Ikea-Regalen und gucken fern. Aber gucken sie "Lindenstraße"?
Vielleicht ist ihre Zeit tatsächlich vorbei, hat Moritz A. Sachs im Interview mit unserer Redaktion überlegt. Für die Randgruppen, die die Serie einst so revolutionär in den Mittelpunkt rückte, gibt es Spartensender, für die Provokationen, die die "Lindenstraße" regelmäßig in die Schlagzeilen brachte, kann jeder echte Nachbar mit Instagram-Account selbst sorgen.
Aber das stimmt so natürlich nicht. Natürlich haben wir die "Lindenstraße" nicht wegen des ersten Aids-Toten im deutschen Fernsehen geguckt (Benno Zimmermann 1988), oder weil auf Bundestagswahlen brandaktuell reagiert wurde (eine Sensation 1990), oder weil sie Migranten und Veganer gleichermaßen nett behandelte.
Eher, weil dort kriminelle Schülerinnen freundliche Priester mit der Bratpfanne erschlugen (Lisa Hoffmeister tötet 1995 Matthias Steinbrück). Weil "Dallas"-Stars in Helga Beimers Reisebüro Flüge nach Texas buchten (ein Gastauftritt Larry Hagmans 2006). Und weil eine einzige Figur alle Familienmitglieder verlieren, ihren Tennislehrer verführen, tablettenabhängig und Esoterikerin werden, als Prostituierte und Friseurin arbeiten, einen Arzt heiraten, ihn umbringen und schließlich lieber mit Frauen zusammenleben wollen konnte (Tanja Schildknecht).
Die "Lindenstraße" war Familie, aber eben in hochdosierter, extrem gemütlicher oder schrecklich wilder, furchtbar peinlicher und deshalb eben auch unterhaltsamster Form.
Die "Lindenstraße" gehört zur urdeutschen Familienlandschaft, das ist ein Klischee, aber deshalb keine Lüge – sondern Grund für Stolz: Soweit muss man es erst mal bringen, soviel Charakter und Unverwechselbarkeit muss man erst mal entwickeln, um zum Klischee zu werden, mit wöchentlich 30 Minuten Mietshausgeschichten am frühen Sonntagabend.
Und ehrlich: Ein Land, das in einer seiner größten Krisen in die Schlagzeilen gerät, weil es Klopapier hortet, hat jedes Recht verspielt, sich über die "Lindenstraße" lustig zu machen.
Ein langsamer Abschied voller Anspielungen
Die letzte Folge musste auch deshalb kein Paukenschlag sein, weil ein langsamer Abschied voller Anspielungen viel mehr Spaß macht. Manche davon in aller Offenheit: In der vorletzten Folge steckte Carsten Flöter (Georg Uecker) seufzend das Schild seiner Arztpraxis in den Müll. Ein kranker, älterer Mann ist er jetzt, der schwule Carsten, der 1990 ganz reale Drohbriefe bekam, weil er in der Serie seinen Freund geküsst hatte.
Und seine Freundin Anna meinte dazu: "Manchmal sollte man sich trennen können." Dieselbe Anna Ziegler, deren Darstellerin Irene Fischer 1988 auf der Straße als Ehebrecherin beschimpft wurde, weil sich Hans Beimer in sie verliebt hatte.
Und natürlich der kleine Erzählstrang der letzten Folgen, "Rettet die Linde", rund um den Baum, an den sich Murat Dağdelen (Erkan Gündüz) kettet, weil er gefällt werden soll. Derselbe Murat, der als Quotentürke 1999 in die Straße eingeführt wurde und sich aus einer Figur voller Klischees zum Charakter entwickeln konnte.
Und schließlich war die ganze, herrlich selbstironische Folge Anfang März ein fröhlichen Winken. In "Die Geister, die Helga riefen", irrt Helga Beimer im Koma-Traum genervt durch die Kulissen der "Lindenstraße" und wird von verstorbenen "Lindenstraßen"-Figuren heimgesucht. Auch Serienerfinder Hans W. Geißdörfer ist höchstpersönlich dabei, ignoriert aber Helgas Flehen "ich kann nicht mehr!".
Beim Tod der Hausmeister-Schreckschraube Else Kling (Annemarie Wendl) 2006 war er als Stimme aus dem Off zu hören, die Else gewissermaßen zu ihrem Schöpfer heimholt.
Solche "Easter Eggs" für treue Fans, die die versteckten Anspielungen entdecken durften, gab es in der letzten Zeit häufig - Klaus zum Beispiel, der in der vorvorletzten Folge mit blutender Nase bei Mutter Beimer liegt, die ihm zum Trost ihr Wunderheilmittel anbietet: "Soll ich uns später ein Spiegelei machen?" Und Klaus antwortet, was schon der kranke Klausi 1985 in der allerersten Szene der beiden sagte: "Komm, Mama, machen wir später nicht lieber gleich?"
Anspielungsreich war auch der Cliffhanger der vorletzten Folge, in der Anna Zieglers Freund Lohmeier in den Tod stürzt und Helga Beimer Anna ganz trocken fragt: "Hast du schon wieder jemanden geschubst?" Schließlich kamen die Männer in Annas Umgebung häufiger Mal unter mysteriösen Umständen ums Leben.
Jetzt ist also wirklich Schluss. Das darf wirklich nicht wahr sein. Deshalb freuen wir uns einfach mal über das offene Ende der letzten Folge von "Die Lindenstraße".
Und zum Glück leben wir ja nicht mehr im Jahr 1985 und seinen zwei Programmen. Wer sich nach den vielen Nachrufen denkt, ach, schade eigentlich, hätt' ich doch mal wieder gucken sollen, hat in den nächsten Wochen noch genug Gelegenheit dazu. Was für Familienfeste gilt, gilt eben auch fürs Familienfernsehen: Alles wiederholt sich.
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