Das Aardman Studio übertrifft sich mal wieder selbst: Mit "Shaun das Schaf – Der Film" haben die britischen Knetspezialisten die vielleicht erste Stop-Motion-Coming-of-Age-Komödie der Quasi-Stummfilmgeschichte geschaffen. Mal abgesehen von dieser Pionierleistung gibt es auch sonst jede Menge Gründe, sich diesen Heidenspaß anzuschauen.
Home is where the heart is. Diese Erkenntnis hat früher oder später jeder mal. Vorher muss man allerdings herausfinden, wofür das Herz eigentlich schlägt. Für Freiheit und ein selbstbestimmtes Leben? Oder doch für die Familie und einen streckenweise eintönigen Alltag? Das Perfide dabei ist ja: Solange man nicht diesen einen großen und ultimativ lehrreichen Moment erlebt hat, der irgendwann im Leben kommt, weiß man die Antwort einfach nicht. Also: Vorhang auf für einen anarchischen Geniestreich aus dem Hause Aardman.
Großangriff auf die Kinogemeinde
Das britische Animationsstudio, das so wunderbar chaotische und oscardekorierte Figuren wie Wallace und Gromit geschaffen hat, widmet sich in seinem neuen abendfüllenden Knetabenteuer den lieben Kleinen. Womit allerdings nicht die Zielgruppe gemeint ist, sondern hauptsächlich die Protagonisten. Denn bei denen handelt es sich um blökende und bellende Vierbeiner, die mit Vorliebe auf ihren Hinterbeinen laufen. Sprich: Um Shaun, das Schaf, den Hirtenhund Bitzer und Shauns ihm treudoof ergebene Freunde. Normalerweise toben sich die Plastilintierchen in siebenminütigen Sketchen aus, die entweder im Netz oder in der "Sendung mit der Maus" zu sehen sind. Jetzt allerdings blasen sie zum Großangriff auf die Kinogemeinde und zeigen dem Rest der Welt, was eine Harke, eine Schafschere und ein Traktor sind.
Denn dieses und noch jede Menge anderes landwirtschaftliches Gerät findet man auf der Mossy Bottom Farm zuhauf. Allerdings findet man dort auch festgefahrene Strukturen, deren Eintönigkeit Shaun allmählich zu langweilen beginnt. Als es ihm eines Tages endgültig reicht, schmiedet er einen Plan. Dafür wird zunächst der allseits korrekte Hirtenhund Bitzer abgelenkt. Dann wird mit vereinten Kräften der Farmer ins Land der Träume und anschließend in einen Wohnwagen bugsiert. Denn wenn der Chef aus dem Haus ist, tanzen die Schafe durchs Wohnzimmer. So die Theorie. In der Praxis allerdings gibt es ja noch die ebenfalls auf dem Hof residierenden Schweine. Und die rufen einfach mal in schönster "Animal Farm"-Manier die totale Anarchie aus und verbannen die Schafe aus ihrem frisch eroberten Spielzeugparadies.
Eine Verbeugung vor Stummfilmgrößen
Als wäre das nicht schon schlimm genug, macht sich auch noch der Wohnwagen des Farmers selbstständig und rollt in einem Affenzahn aus der ländlichen Idylle mitten rein in die kilometerweit entfernte Stadt. Und zur Krönung des Dilemmas verliert der ohnehin schon irritierte Landwirt auch noch sein Gedächtnis und landet im Krankenhaus.
Was folgt, ist eine Rettungsaktion, bei der Chaos, Slapstick und popkulturelle Referenzen Hand in Hand Breakdance tanzen. Die Drehbuchautoren zitieren sich quer durch die Filmgeschichte, verbeugen sich vor Stummfilmgrößen wie Buster Keaton, Charlie Chaplin oder Jacques Tati, streuen Verweise auf Robert Mitchums tätowierte Knöchel in "Die Nacht des Jägers" oder zitieren – weil es sich nun mal wirklich anbietet - "Das Schweigen der Lämmer". Nebenbei machen sie sich über den Uniformismus der Hipsterkultur lustig und schaffen einen Bösewicht, der ähnlich besessen agiert wie der Tierjäger in "Ab durch die Hecke".
90 Minuten ohne ein Wort
All das passiert, ohne dass auch nur ein einziges verständliches Wort geredet wird. Denn genau wie in Shauns Kurzfilmen wird auch hier komplett auf Dialoge verzichtet. 90 Minuten lang murmeln, grunzen, schnattern und gestikulieren sich Shaun und seine Mitstreiter durch ihr Großstadtabenteuer. Und es funktioniert: "Shaun das Schaf" attackiert Herz, Hirn und Zwerchfell gleichermaßen. Auch wenn man nicht alle Popkulturreferenzen versteht, weil man beispielsweise noch in die Vorschule geht: Spaß ist garantiert. Und das Schöne ist: Er wird anhalten. Denn zum einen kann und will man sich dieses Anarchovergnügen immer wieder anschauen. Und zum anderen ahnt man: Auch wenn Shaun am Ende seine Lektion gelernt hat – es war bestimmt nicht der letzte Streich, den das clevere Schaf und seine Stop-Motion-Kollegen von Aardman ausgeheckt haben.
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