Es wird weiter verhandelt, aber es sieht nicht gut aus: Im Tarifkonflikt mit der Bahn droht der Beamtenbund mit "einem der schlimmsten Arbeitskämpfe aller Zeiten". Doch was ist erlaubt in Sachen Streik?
Bis zum 17. Dezember müsse der Konzern der Lokführergewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) ein Angebot "ohne Vorbedingungen" unterbreiten, sagte der Zweite Vorsitzende des Beamtenbunds, Willi Russ, unlängst der "Süddeutschen Zeitung". Andernfalls werde wieder gestreikt und dann sei "alles Bisherige nur Kinderkram" gewesen, drohte Russ.
Der Beamtenbund ist die Dachorganisation, der die GDL angehört. Er ist zuständig für die Streikkasse, aus der die Lokführer ihre Arbeitskämpfe finanzieren. An diesem Freitag kamen alle wieder an den Verhandlungstisch. Diesmal allerdings für die etwa 100.000 Mitglieder der mit der GDL konkurrierenden Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG).
Auseinandersetzungen im Arbeitsrecht setzen den Betroffenen meist stark zu - und das sind in diesem Fall nicht nur die Mitglieder von GDL und EVG, sondern auch die von ausfallenden Zügen belasteten Bahnkunden. Aber wie weit darf der Beamtenbund nach deutschem Recht gehen? Dr. Dietrich Growe, Fachanwalt für Arbeitsrecht, aus der Mannheimer Anwaltskanzlei Dr. Growe und Kollegen beantwortet die wichtigsten Fragen zum Thema Streikrecht.
Erstmal etwas Grundsätzliches: Verletzen Arbeitnehmer bei einem Streik nicht ihre vertragliche Hauptpflicht, nämlich zu arbeiten?
Dr. Growe: Nein. Es steht im Grundgesetz, dass gestreikt werden darf. Es gibt dafür bestimmte Voraussetzungen. Wenn sie vorliegen, darf gestreikt werden.
Wie lange darf gestreikt werden?
Dr. Growe: Da gibt es keine rechtlichen Vorgaben, sondern nur tatsächliche Grenzen. Wenn jemand streikt, bekommt er keinen Lohn. Wenn er Streikunterstützung von seiner Gewerkschaft bekommt, ist sie in der Regel höchstens so hoch wie das Arbeitslosengeld. Das heißt, wer streikt, verliert jeden Tag ungefähr ein Drittel seines Geldes. Das führt zu einer natürlichen zeitlichen Beschränkung des Streiks. Das gilt übrigens noch mehr in Frankreich, wo es nicht einmal von vornherein garantierte Streikunterstützung gibt. Die Streikenden dort müssen spontan Streikunterstützung organisieren.
Darf im Fall der GDL und EVG der komplette Verkehr lahmgelegt werden und gar kein Zug mehr fahren?
Dr. Growe: Ja. Nur wenn jemand in Not ist, muss ihm geholfen werden. Das gilt für jeden Streik hierzulande. An dieser Stelle möchte ich darauf hinweisen, dass es erstaunlich ist, wie selten gesagt wird, dass die Lokführer in Deutschland rund 50 Prozent weniger verdienen als ihre französischen oder britischen Kollegen. Ist da ein längerer Streik erstaunlich?
Muss aber nicht ein Notbetrieb möglich sein?
Dr. Growe: Sagen Sie mir, wo wegen des Streiks bei der Bahn eine Not entstehen könnte? Es gibt ja Ausweichmöglichkeiten, etwa Busse. Und immerhin handelt es sich ja auch bei dem aktuellen Streik um einen angekündigten Arbeitskampf.
Gibt es Sonderregelungen für Weihnachten?
Dr. Growe: Nein, es gibt keine Sonderregelungen für die Festtage. Ich möchte auch zu bedenken geben: Wer in Deutschland über einen Streik schimpft, möge den Begriff "Streikstatistik" googlen. Dann erfährt man, dass selbst in Ländern wie Ungarn pro Arbeitnehmer fünfmal so viel gestreikt wird wie hier. In Spanien sogar zwanzigmal mehr! Man muss sich also fragen, wie leben unsere Nachbarn unter solchen Zuständen? Wir vergessen manchmal, dass Grundrechte immer bedeuten, dass auch andere Grundrechte so ausüben können, wie es uns nicht passt. Die Deutschen streiken viel weniger als ihre europäischen Nachbarn. Und wir dürfen nicht vergessen: In vielen europäischen Ländern gibt es immer wieder Generalstreiks.
Dürfen gleichzeitig alle Verkehrswege bestreikt werden, also beispielsweise auch der Flugverkehr?
Dr. Growe: Generell ginge das. Aber so viel Chaos hat es in Deutschland noch nicht annähernd gegeben.
Gibt es nicht auch eine "Friedenspflicht"?
Dr. Growe: Friedenspflicht bedeutet, dass während der Laufzeit eines Tarifvertrages nicht gestreikt werden darf. Wird beispielsweise also ein Manteltarifvertrag für fünf Jahre abgeschlossen, dann gilt für fünf Jahre eine Friedenspflicht in den vertraglich geregelten Fragen. Wenn danach verhandelt wird, darf dagegen gestreikt werden.
Was bedeutet aber, dass ein Streik "nicht unverhältnismäßig" sein darf?
Dr. Growe: Ein Streik wäre beispielsweise unverhältnismäßig, wenn die Lokführer die Möglichkeit hätten, auf anderem Wege ihr Ziel der Tariferhöhung durchzusetzen. Ich sehe aber keine andere Möglichkeit.
Am Donnerstag wurde im Bundeskabinett das "Gesetz zur Tarifeinheit" beschlossen. Was bedeutet das?
Dr. Growe: Die Regierung will die Tarifeinheit so festschreiben, dass immer nur die größte Gewerkschaft im Betrieb einen Tarifvertrag erzwingen kann. Das bedeutet, dass alle Arbeitnehmer ihr Recht auf das Verhandeln eines Tarifvertrages verlieren, die einer kleineren Gewerkschaft angehören. Gewerkschaften sind vor allem dazu da, Arbeitsbedingungen - meistens in Tarifverträgen - zu regeln. Dieses Recht denen zu nehmen, die in einer kleineren Gewerkschaft sind, ist mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit verfassungswidrig. Denn die kleinere Gewerkschaft müsste sich gezwungenermaßen der größeren Gewerkschaft anschließen.
Kann man angesichts aller dieser Streikvoraussetzungen schließen, dass wir in Deutschland ein liberales oder enges Streikrecht haben?
Dr. Growe: Wir haben ein eher enges Streikrecht. Beispielsweise hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in mehreren Entscheidungen festgestellt, dass Deutschland rechtswidrig allen Beamten das Streikrecht abspricht. Die Streikrechte in anderen Ländern sind viel umfangreicher. Nur ein Beispiel: Nach meinen Informationen ist es in Frankreich zulässig, den Boss in der Fabrik über mehrere Tage und Nächte in der Firma einzusperren, um Forderungen der Beschäftigten durchzusetzen. Das wäre in Deutschland undenkbar.
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