Angela Merkel erklärt die Griechenland-Frage zur Chefsache. Sie nimmt den polarisierenden Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble aus dem Spiel und reicht Regierungschef Alexis Tsirpas die Hand. Es ist ein Wandel ihrer Krisenpolitik. Wie kam es dazu? Das sind die Gründe.

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Viele Griechen leiden. Immer mehr Bürger haben nicht mehr das Geld für das Nötigste. Die Zahl der Menschen in Griechenland, die in Armut abdriften, steigt ununterbrochen. Das griechische Parlament billigte deshalb unter der Woche ein rund 200 Millionen Euro teures Hilfsprogramm. Es geht um Existenzielles: Strom und Essensmarken für Mittellose.

Ausgerechnet Merkel hilft

Dabei droht dem Staat selbst beinahe jeden Tag der Bankrott. Hilfe kommt in dieser Situation ausgerechnet von jener Frau, die die Griechen hauptverantwortlich machen für die strengen Auflagen der Troika: Bundeskanzler Angela Merkel (CDU). Jene deutsche Regierungschefin also, die der populistische griechische Boulevard seit Jahren in Montagen mit Naziuniform oder Hakenkreuzfahne auf den Titelseiten zeigt. "Wir werden die Griechen jetzt einfach mal beim Wort nehmen", sagte die 60-Jährige an diesem Freitag. Aber warum? Was steckt hinter dieser vermeintlich neuen Stoßrichtung ihrer Politik?

Zu den Fakten: Der Regierungschef der linksradikalen Syriza, Alexis Tsipras, verpflichtete sich bei einem Treffen mit Merkel, weiteren EU-Spitzenpolitikern und EZB-Chef Mario Draghi darauf, in den nächsten Tagen eigene Reformvorschläge vorzulegen. Es ist ein Zugeständnis' Merkels. Sie versprach, bereits vereinbarte Schritte zur Rettung des Landes vor der drohenden Pleite zu beschleunigen. "Alles soll schnell gehen", sagte sie. Die Zeit drängt. EU-Parlamentspräsident Martin Schulz meinte jüngst, dass das Land kurzfristig zwei bis drei Millionen Euro brauche.

Die Kanzlerin als besonnene Diplomatin

Aus dem aktuellen Hilfsprogramm kann Griechenland noch auf 1,8 Milliarden Euro an Krediten vom Euro-Rettungsschirm EFSF und 1,9 Milliarden Euro von der EZB hoffen. Eine frühzeitige Auszahlung ausstehender Notkredite versprach Merkel Athen aber nicht. EU-Kommission, Internationaler Währungsfonds und Europäische Zentralbank sollen die Reformliste zunächst überprüfen. Merkel wirkt in dieser Gemengelage wie die besonnene Diplomatin. Dabei ist sie die gewiefte Machtpolitikerin. Ein Bankrott Griechenlands käme einem Scheitern der Währungsunion gleich. Und das möchte die Kanzlerin um jeden Preis vermeiden.

Politik nach dem "Rational-Choice-Prinzip"

Deshalb nahm sie auch ihren polarisierenden Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) aus dem Spiel - vorerst. Und darum erklärte sie die Eurokrise zur Chefsache. Sie änderte dafür binnen weniger Tagen vieles. Die Rhetorik, die Kommunikation über und mit den Griechen, die Signale an die Parteibasis. Sie hat politisch lukrative Gründe dafür. In Zeiten historischer Tiefstwerte der SPD kann sie bei den Wählern punkten. Da sie in der Ukraine-Krise nicht weiterkommt, braucht sie hierfür ein anderes außenpolitisches Feld. "Rational-Choice-Prinzip", nennt man solch ein Verhalten in der Politikwissenschaft. Rational, kalkuliert und gezielt lässt sie ihre Aussagen wirken. Dass "aus den Meinungsverschiedenheiten wieder gegenseitiges Verständnis" werden müsse; und, dass die Welt darauf schaue, "wie wir mit Krisen in einzelnen Mitgliedstaaten umgehen".

Merkel reicht Tsipras die Hand

Deshalb redete sie mit Tsipras auch nicht über scharfe Reaktionen von Schäuble auf seinen griechischen Amtskollegen Yanis Varoufakis und umgekehrt. "Wir haben ein sehr ruhiges Gespräch geführt, und das war auf die Sache ausgerichtet", schilderte sie. Sie reicht Tsipras die Hand. Mit Erfolg: Die Hoffnung auf einen Durchbruch in den Gesprächen hat der Athener Börse am Freitag neuen Schwung verliehen. Der Leitindex kletterte in der Spitze um 3,5 Prozent, nachdem er in den vergangenen fünf Tagen fast neun Prozent verloren hatte. Und der griechische Bankenindex lag zeitweise knapp sieben Prozent fester. Es sind Belege dafür, dass der Kurs der Anti-Konfrontation in Europa ankommt. Das war bisher anders. Die Union schwenkte zwischen ganz viel Druck und ganz viel Nachgeben. Jetzt geht die Kanzlerin strikt einen Weg. Auch, weil sie innenpolitisch neben Regierungspartner SPD die Euro-Kritiker der AfD klein halten will. Merkel weiß zu gut: In der Griechenland-Frage ist sie schon einmal gescheitert. Sie konnte nicht verhindern, dass die Griechen mit ihrer Abneigung gegen das deutsche Diktat den Linken um Tsirpas in die Arme liefen.

Für Merkel war das ein Albtraum, eine außenpolitische Schlappe. Doch nichts im Vergleich zu dem, was bei einem Austritt Griechenlands droht. Andere Länder würden sich keine Auflagen mehr machen lassen. Es wäre das Aus für Merkels Weg, der finanzielle Hilfen langfristig immer mit harten Auflagen verband. Und es wäre womöglich der Anfang vom Ende der Währungsunion. "Scheitert der Euro, dann scheitert Europa", sagte sie. "Ich bleibe dabei."

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