- Man merkt es in Pflegeheimen, am Flughafen oder auf Baustellen: Überall fehlen Fachkräfte, viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind an der Belastungsgrenze.
- Was das in der Praxis bedeutet, beschreiben eine Pflegeheimleiterin und eine Mitarbeiterin eines Sicherheitsdienstes.
Wenn eine ihrer Kolleginnen krank wird, greift Anna Pfenninger sofort zum Telefon. "Wenn jemand ausfällt, muss der nächste einspringen. Wer frei hat, wird angerufen", sagt Pfenninger. Seit 14 Jahren leitet die ausgebildete Krankenschwester und Diplom-Pflegewirtin das Alten- und Pflegeheim St. Michael in München. Rund 100 Pflegemitarbeiter kommen auf die insgesamt 192 Plätze.
"Wir betreuen 24 hoch demente Menschen in unserem Wohnbereich, vier Pfleger im Frühdienst, vier im Spätdienst, einer in der Nacht, sieben Tage die Woche. Das ist maximale Höchstbelastung für die Mitarbeiter", erzählt Pfenninger. Mit dieser eng gestrickten Personalbesetzung müssen die Demenzkranken versorgt werden: aufstehen, essen, Toilettengang, waschen, ins Bett legen, im Alltag begleiten. Alles 24 Mal, alles mit nur vier Pflegern. "Und die Bewohner wollen nicht immer aufstehen, sie lehnen mal essen oder Hilfe ab. Dafür braucht es Zeit und viel Einfühlungsvermögen", sagt Pfenninger.
Selbst wenn kein Dienst ist, kann ständig der Anruf kommen, dass eingesprungen werden muss. "Es ist belastend, wenn das System so knapp berechnet ist – aber unter den aktuell gegebenen Rahmenbedingungen geht es nicht anders", bemerkt Pfenninger. Das Problem sind nicht nur straffe Personalvorgaben und Pflegeschlüssel, sondern auch fehlende Fachkräfte.
Fachkräftemangel stellt Deutschland vor massives und flächendeckendes Problem
Deutschland steht vor einem massiven und vor allem flächendeckenden Problem – und das nicht nur im Pflegebereich. "Der Fachkräftemangel ist so bedrohlich, dass wir wahrscheinlich in den nächsten zehn Jahren einen Wohlstandsverlust hinnehmen müssen", warnte Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger am Wochenende. Es fehlen hunderttausende Fachkräfte im Gesundheitssektor, im Handwerk, in der Industrie, auf dem Bau und im Handel. Laut einer aktuellen Umfrage des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK) klagt hierzulande mehr als jedes zweite Unternehmen über Fachkräftemangel.
Und: Es wird in den kommenden Jahren voraussehbar noch schlimmer werden. "Wir haben zurzeit eine Rekordzahl von rund 45 Millionen Erwerbstätigen in der deutschen Wirtschaft. Davon werden wir in den nächsten zehn Jahren rund fünf Millionen Menschen verlieren, die in den wohlverdienten Ruhestand gehen", sagte Dulger der Deutschen Presse-Agentur.
Pflegeheimleiterin: "Wir bekommen seit zwei Jahren keine Bewerbungen"
Pflegeheimleiterin Pfenninger befasst sich schon jetzt mit dieser Herausforderung. Ihr Weg: selbst ausbilden sowie gezielt weiterbilden und nachqualifizieren. "Sehr viele Kolleginnen und Kollegen, die aus den geburtenstarken Jahrgängen, gehen demnächst in Rente. Unsere Azubis gleichen diese Fluktuation aus." Dennoch werde es zunehmend schwieriger, Azubis zu finden. "Viele Bewerber erfüllen nicht die Voraussetzungen, insbesondere was Sprachkenntnisse angeht", sagt Pfenninger.
Bei ihr würden sich vor allem Menschen mit Migrationshintergrund bewerben, nur etwa eine von zehn Mappen, die bei Pfenninger landet, sei von einem gebürtigen Deutschen. Doch immerhin finden sich überhaupt Bewerber für die acht Azubi-Stellen pro Ausbildungsjahr, auch wenn nicht immer alle Stellen besetzt werden können. "Wir sind in der glücklichen Lage, im Pflegebereich gerade nicht nach neuen Mitarbeitern suchen zu müssen."
Ganz anders sieht es aber aus, wenn Pfenninger auf dem freien Markt gezielt nach einer Fachkraft mit Weiterbildungen, zusätzlichen Qualifikationen oder Führungserfahrung sucht. "Die sind praktisch nicht zu finden. Diese Mitarbeiter sind wirklich verschwunden, wir bekommen keine externen Bewerbungen – und das bereits seit zwei Jahren." Laut des DIHK-Fachkräfte-Reports 2021 können 67 Prozent der Gesundheits- und Sozialdienstleister offene Stellen längerfristig nicht besetzen, weil sie einfach keine passenden Fachkräfte finden.
Schlechtes Image verschärft Personalmangel
Die Gründe für den Fachkräftemangel sind nur zum Teil demografischer Natur, so gibt es gegenwärtig etwa 100.000 weniger Schulabgänger als noch vor zehn Jahren. Handwerker klagen über eine zurückgegangene Wertschätzung und fehlende Kenntnis über die Zukunftsaussichten ihres Berufes, Pflegekräfte über das schlechte Image ihrer Branche.
Gerade im Gesundheitsbereich hat die Coronakrise die Bedingungen noch einmal verschärft: Wenn die ersten Kollegen krankheitsbedingt ausfallen, beginnt sich der Teufelskreis aus Überlastung und Mangel zu drehen. Die Arbeit wird (noch) unattraktiver, Mitarbeiter wechseln den Job, immer häufiger auch die Branche.
Auch an deutschen Flughäfen zeigt sich dieses Phänomen jetzt im Sommer deutlich. Weil die Betreiber, Airlines und Dienstleister in den reiseschwachen Pandemiejahren Personal abbauten, fehlen nun die Sicherheitsmitarbeiter. Die Folge: teils chaotische Zustände mit langen Wartezeiten. Doch nicht nur dort: Im Juni mussten die Veranstalter in Bayern sogar kurzfristig ein Musikfestival mit Tausenden Gästen absagen, weil der Ordnungsdienst nicht genügend Sicherheitskräfte stellen konnte.
Sicherheitsdienstleister: "Wir sind im Grunde genommen ständig auf der Suche"
Auch Antje Herrmann sucht händeringend nach Mitarbeitern. "Egal ob 450-Euro-Job, Teilzeit oder Vollzeit – wir sind im Grunde genommen ständig auf der Suche, vor allem in den Bereichen Objekt- und Veranstaltungsschutz", sagt die Prokuristin beim Sicherheitsdienst SOW Sicherheitsdienst GmbH aus Erligheim in Baden-Württemberg. Die Suche sei allerdings schwierig: "Die Bewerber-Situation hat sich in den vergangenen zwei Jahren dahingehend verändert, dass wir ungefähr zwei Drittel bis drei Viertel weniger Bewerbungen bekommen." Teilweise müsse ihre Firma deshalb auf Kooperationspartner ausweichen. Bei SOW Sicherheit selbst seien 40 Mitarbeiter im Einsatz.
Für Herrmann bedeutet der Personalmangel schon jetzt, dass sie teilweise Aufträge ablehnen musste. Und das, obwohl wegen mehr Kontrollen in der Corona-Pandemie die Nachfrage nach Sicherheitsmitarbeitern "massiv" gestiegen sei, wie sie sagt.
Ja, gibt Herrmann zu, "wir sind ein Niedriglohnsektor". Sie bezweifelt aber, dass eine höhere Bezahlung automatisch die Bewerberzahl erhöhe, schon jetzt zahle man in manchen Bereichen übertariflich. "Der schlechte Ruf unserer Branche schreckt viele davon ab, sich zu bewerben", glaubt Herrmann. Sie verweist auf die Arbeitszeiten: Oft geht es in ihrer Branche um Abend- und Nachtschichten oder Einsätze an Wochenenden oder Feiertagen.
Wenn andere feiern oder in den Urlaub wollen, müssen Sicherheitsmitarbeiter ran. Genauso wie Krankenschwestern und Pfleger. Für sie alle gilt: Selbst wenn sie frei haben, kann immer der Anruf kommen einzuspringen. Denn ohne sie geht nichts.
Verwendete Quellen:
- Telefongespräch mit Anna Pfenninger, Alten- und Pflegeheim St. Michael, München
- Telefongespräch mit Antje Herrmann, SOW Sicherheitsdienst GmbH, Erligheim
- Firstbird: "Fachkräftemangel Statistik: Welche Berufe sind betroffen?"
- Deutscher Industrie- und Handelskammertag: "DIHK-Vorschläge zur Reform des Fachkräfteeinwanderungsgesetzes"
- Deutscher Industrie- und Handelskammertag: "DIHK-Report Fachkräfte 2021"
- "Puls"-Open-Air: "Stellungnahme des Veranstalters"
- Meldungen der Deutschen Presse-Agentur
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