Der Ökonom Sebastian Dullien will der deutschen Industrie unter die Arme greifen. Im Interview sagt er, warum ein gedeckelter Strompreis eine gute Idee ist – und wie er mit der Schuldenbremse umgehen würde.

Ein Interview

Wie geht es der deutschen Wirtschaft im Spätsommer 2023? Eine Frage, die nicht einfach zu beantworten ist. Einerseits sind die Wachstumsaussichten mau, die Inflation hält sich hartnäckig. Andererseits vermeldete die für den Export so wichtige Industrie zuletzt schon wieder mehr Auftragseingänge. Auch der Arbeitsmarkt zeigt sich robust.

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Sebastian Dullien blickt als Ökonom nüchtern auf die Volkswirtschaft und ihre Kennzahlen. Der Direktor des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung sagt: Deutschland ist nicht der kranke Mann Europas. Und dennoch ist der Wohlstand in Gefahr. Hohe Energiepreise könnten ganze Industrien ins Ausland vertreiben.

Herr Dullien, wie besorgt sind Sie um den Wirtschaftsstandort Deutschland?

Sebastian Dullien: Aktuell ist die konjunkturelle Lage nicht gut. Wir bewegen uns an der Grenze zur Rezession. Das letzte Quartal war eher eine Stagnation, also ein Null-Wachstum. An sich ist das nicht problematisch. Schwerer wiegen die Entwicklungen, die sich im Hintergrund abzeichnen. Sie deuten darauf hin, dass die Struktur der deutschen Wirtschaft Schaden nehmen könnte.

Was meinen Sie damit?

Der russische Überfall auf die Ukraine hat zu einem historisch einmaligen Energiepreisschock geführt. Energieintensive Produktion in Deutschland ist damit weniger wettbewerbsfähig. Hinzu kommt: Die Strompreise sind nicht nur deutlich gestiegen, sie schwanken auch stark. Unternehmen fehlt dadurch die Planungssicherheit, sie halten Investitionen zurück – und sie könnten sich am Ende schlimmstenfalls entschließen, den Standort zu verlagern. Dadurch könnten ganze Industrien verloren gehen.

Also ist Deutschland wieder der kranke Mann Europas, wie es der Economist auf seinem Titel gefragt hat?

Die Debatte ist nicht neu. Vor 20 Jahren wurde schon einmal vom kranken Mann Europas gesprochen. Damals ging es um einen verkrusteten Arbeitsmarkt und die Notwendigkeit einschneidender Reformen. Es folgten die Hartz-Gesetze. Heute haben wir andere Probleme, Stichwort Fachkräftemangel. Es hilft daher nicht, sich des Vokabulars von vor zwei Jahrzehnten zu bedienen. Zumal so die Gefahr besteht, wieder die gleichen Schlüsse zu ziehen. Das wäre falsch.

Aber die Gefahr der Deindustrialisierung ist real.

Ja, aber aus einem anderen Grund. Die Rezession hat etwas mit den Energiepreisen zu tun. Sie setzen den Unternehmen massiv zu, an dieser Stelle droht Wohlstandsverlust. Das heißt auch, dass man wirtschaftspolitisch hier ansetzen muss – bei den Preisen.

Wirtschaftsminister Robert Habeck hat die Idee eines Brückenstrompreises ins Spiel gebracht, also eines staatlich subventionierten Strompreises. Der Kanzler ist davon nicht begeistert.

Die Unternehmen brauchen bei den Strompreisen mehr Planungssicherheit. Dafür sind zwei Dinge wichtig: Erstens ein zügiger und effizienter Ausbau der Erneuerbaren Energien, damit die Strompreise mittelfristig und langfristig wieder niedriger sind. Und zweitens müssen wir klären: Was passiert in der Zwischenzeit, wenn die Strompreise möglicherweise stark schwanken?

Und da könnte eine Art Preisdeckel helfen?

Bislang gibt es nur Vorschläge und noch kein Gesetz. Insofern sehe ich das, was aus dem Wirtschaftsministerium bekannt ist, als Diskussionsgrundlage. Aber ja: Ein Brückenstrompreis ist eine Möglichkeit, starke Preisschwankungen für einen begrenzten Zeitraum abzufedern. Es geht – das ist wichtig – nicht darum, die Industrie dauerhaft zu subventionieren. Ich glaube, das hat Olaf Scholz falsch verstanden.

Allerdings führen Markteingriffe auch immer zu Verzerrungen und Mitnahmeeffekten.

Möglicherweise gibt es Unternehmen, die davon profitieren, obwohl sie den subventionierten Preis nicht bräuchten. Die Frage aber lautet: Ist das ein sinnvolles Kriterium? Auch ein Unternehmen, das hochprofitabel ist, steht vor der Entscheidung: In Deutschland investieren oder in die USA oder nach China gehen, wo der Strom viel günstiger ist? In der Wirtschaftspolitik geht es nicht immer darum, ob jemand etwas braucht oder nicht – sondern, ob wir damit ein bestimmtes Ziel erreichen. In diesem Fall Wertschöpfung und Arbeitsplätze in Deutschland zu erhalten.

Auch Finanzminister Christian Lindner will die Unternehmen entlasten. Sein Wachstumschancengesetz sieht unter anderem Steuererleichterungen vor. Wie bewerten Sie die Pläne?

Es gibt im Gesetz nichts, wo man sagen müsste, das geht in die falsche Richtung. Das Problem beim Wachstumschancengesetz ist etwas anderes.

"Es ist aus meiner Sicht ökonomisch falsch, jetzt stur an der Schuldenbremse festzuhalten."

Sebastian Dullien, Ökonom

Nämlich?

Das Fördervolumen ist sehr klein. Es geht um sechs Milliarden Euro pro Jahr. Angesichts der Herausforderungen, vor denen das Land steht – etwa der klimagerechte Umbau der Wirtschaft – ist das nicht genug. Der Effekt auf private Investitionen dürfte damit sehr begrenzt bleiben.

Allerdings lässt es die Schuldenbremse nicht zu, dass der Staat in die Vollen geht.

Die Schuldenbremse kennt Ausnahmen, etwa in einer wirtschaftlichen Notlage. Wir leiden noch immer unter den Nachwirkungen des massiven Energiepreisschocks. Das Bruttoinlandsprodukt ist heute zwei bis drei Prozent niedriger. Es ehrt Christian Lindner, dass er mit Blick auf die Schuldenbremse ein Wahlversprechen einhalten möchte. Aber die Situation war damals eine andere. Um es klar zu sagen: Es ist aus meiner Sicht ökonomisch falsch, jetzt stur an der Schuldenbremse festzuhalten und keine Notlage zu erklären.

Wäre es besser, die Schuldenbremse ganz abzuschaffen?

Ich finde nicht, dass die Schuldenbremse, so, wie sie ist, sinnvoll und notwendig ist. Nur: Um sie abzuschaffen, bräuchte es Zweidrittelmehrheiten in Bundestag und Bundesrat. Die gibt es aber nicht, auch nicht absehbar. Insofern stellt sich die Frage nicht.

Der Finanzminister argumentiert, dass Haushaltsdisziplin notwendig ist, um die Inflation in den Griff zu bekommen. Im Juli lag sie bei 6,2 Prozent. Wann schwächt sich die Preisdynamik wieder ab?

Wir gehen davon aus, dass die Inflation in den nächsten Monaten weiter sinkt. Im nächsten Jahr liegt sie laut Prognose im Jahresdurchschnitt bei 2,4 Prozent. Das heißt, dass wir 2024 schon wieder recht nahe an das Zwei-Prozent-Ziel der Europäischen Zentralbank herankommen.

Es gibt Ökonomen, die besorgt auf die Kerninflation – also die Preisdynamik ohne volatile Ausschläge bei Energie und Lebensmitteln – blicken. Die Kerninflation könnte bald über der regulären Inflation liegen. Besteht die Gefahr, dass sich das Preisauftrieb verfestigt?

Die Kerninflation wird zwar ohne Energie und Lebensmittel ausgewiesen. Aber: In den meisten Produkten und Dienstleistungen spielt beides eine Rolle. Flugreisen sind, um ein Beispiel zu nennen, deutlich teurer geworden. Der Grund ist, dass Kerosin nicht mehr so billig ist. Insofern sehen wir bei der Kerninflation ein Nachlaufen des Energiepreisschocks. Zu Beginn der Krise ist die Kerninflation – da sie den Sprung bei den Energiepreisen nicht direkt abbildet – etwas langsamer angestiegen. Und jetzt fällt sie eben etwas langsamer. Sie sollte sich aber im Zeitverlauf der regulären Inflationsrate anpassen.

Die Europäische Zentralbank muss also nicht erneut die Zinsen anheben?

Die EZB hat die Zinsen so stark erhöht wie noch nie in ihrer Geschichte. Es dauert einige Quartale, bis Zinserhöhungen vollständig wirken. Das sollten wir erst abwarten. Außerdem geht es der Wirtschaft nicht gut, Zinserhöhungen können den Negativtrend verstärken. Von daher wäre es gut, zunächst eine Pause einzulegen und sich die Daten genau anzuschauen.

Zur Person: Sebastian Dullien ist seit 2019 Wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK). Dullien studierte Volkswirtschaftslehre an den Universitäten in Bochum und Berlin (FU). Vor seiner Professur für Allgemeine Volkswirtschaftslehre an der HTW Berlin war er Journalist bei der Financial Times Deutschland.
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