Die deutsche Wirtschaft kommt nicht vom Fleck. Was also tun? Gewerkschaftsnahe Ökonomen haben eine Idee – und die kommt ohne Sozialkürzungen aus.

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Eines hält Sebastian Dullien gleich fest: "Deutschland hat wirtschaftlich ein verlorenes halbes Jahrzehnt hinter sich", sagt der Direktor des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK). Seit Corona kommt die deutsche Wirtschaft nicht vom Fleck. Und nach Jahren des Mini-Wachstums sieht es auch in 2025 nicht viel besser aus. Auf 0,1 Prozent schätzen die gewerkschaftsnahen Forscher das Wirtschaftswachstum in Deutschland.

In ihrer wirtschaftspolitischen Analyse zum Jahresauftakt versuchen sich die Ökonomen an einer Antwort auf die Frage, was gegen die Krise hilft. Dabei setzen sie nicht auf Sparpolitik, Sozialkürzungen oder Lohnzurückhaltung. Stattdessen schlägt IMK-Direktor Dullien einen gedeckelten Strompreis, eine große Investitionsoffensive in die Infrastruktur, eine Reform der Schuldenbremse und eine koordinierte europäische Industriepolitik vor.

Ökonom sieht Politik in der Verantwortung

"Wir sind wirtschaftspolitisch in einer neuen Welt. Gerade deshalb brauchen wir auch neue Lösungen auf der Höhe der Herausforderungen", so Dullien. Beispiel Industriepolitik: Die nächste Bundesregierung müsse verhindern, "dass strategisch wichtige Industriebereiche wegbrechen". Dazu zählt Dullien die Automobilindustrie sowie energieintensive Branchen wie Chemie und Stahl.

Klar ist: All das wird teuer. Und unter den gegenwärtigen Rahmenbedingungen der Schuldenbremse ist es nicht finanzierbar. Darin sind sich gewerkschafts- und arbeitgebernahe Ökonomen sogar einig. In einer gemeinsamen Analyse kommen das IMK und das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) Köln zu dem Ergebnis, dass jährlich 60 Milliarden Euro zusätzlich gezielt in Verkehr, Digitalisierung, Bildung und Dekarbonisierung, also den klimaneutralen Umbau der Wirtschaft, investiert werden müssen. Über zehn Jahre ergibt sich somit ein Bedarf von 600 Milliarden Euro extra.

Dullien empfiehlt der kommenden Bundesregierung daher eine Reform der Schuldenbremse, hin zur Goldenen Regel der Finanzpolitik. Die besagt vereinfacht ausgedrückt , dass der Staat in dem Umfang Kredite aufnehmen darf, wie er Investitionen tätigt. Schulden für den Bau einer Autobahn wären demnach in Ordnung, für die Ausweitung sozialer Leistungen hingegen nicht.

Ist der Sozialstaat zu ausufernd?

Was Dullien und seine Kolleginnen und Kollegen in ihrer wirtschaftspolitischen Analyse festhalten, deckt sich nur bedingt mit dem aktuellen Diskurs über die deutsche Wachstumsschwäche. Aus der konservativ-liberalen Ecke heißt es oft: Das Steuersystem sei leistungsfeindlich, die Bürokratie zu hoch, der Sozialstaat zu ausufernd. Dem hält Dullien entgegen, dass die deutsche Wirtschaft bis Corona überdurchschnittlich gewachsen sei.

Geopolitisch habe es danach aber Veränderungen gegeben. Zwischen den für Deutschland wichtigen Handelspartnern China und USA sei ein Machtkampf entbrannt. Beide Länder haben laut Dullien ihre industrie- und handelspolitischen Aktivitäten etwa durch Subventionen nationaler Unternehmen und Zölle deutlich verstärkt. Darunter leide die exportorientierte deutsche Wirtschaft. Zudem wirke der durch den russischen Angriff auf die Ukraine ausgelöste Energiepreisschock noch immer nach.

Auch die Zinspolitik der Europäischen Zentralbank (EZB) ist aus Sicht der gewerkschaftsnahen Forscher nicht entschlossen genug. Sie plädieren für stärkere Zinssenkungen, um die Konjunktur zu beleben.

Kein Rütteln an der Lohnfortzahlung

Die deutsche Diskussion kreist derweil um andere Dinge: Seit Jahresauftakt gibt es wieder Stimmen, die fordern, einen Karenztag bei der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall einzuführen. Heißt also: Wenn Arbeitnehmer krank sind, müssen sie am ersten Tag auf Geld verzichten. Oder sich ins Büro schleppen.

Davon hält Dullien nichts. Es sei zwar richtig, dass dadurch der Krankenstand sinken könne, sagt er. Aber es gebe einen zweiten Effekt – mit gegenteiligen Folgen. Wer infektiös zur Arbeit geht, steckt seine Kolleginnen und Kollegen an. Dadurch steigt der Krankenstand wieder. Und niemandem sei geholfen – am allerwenigsten der deutschen Volkswirtschaft.

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