Der Bilanzskandal wird immer skurriler. Während CEO Markus Braun und Manager Oliver Bellenhaus mit der Staatsanwaltschaft kooperieren, ist Ex-Vorstand Jan Marsalek weiter auf der Flucht. Doch der Skandal zieht zunehmend auch politische Kreise: Finanzminister Olaf Scholz wusste bereits seit Februar 2019 von den Vorwürfen. Im Herbst 2019 unterstützte das Kanzleramt Wirecards geplante Expansion nach China.
Der Bilanzskandal bei Wirecard führte dazu, dass das DAX-Unternehmen Ende Juni Insolvenz anmelden musste. Es war bekannt geworden, dass in der Bilanz 1,9 Milliarden Euro fehlten. Die Staatsanwaltschaft vermutet, dass bereits seit mehreren Jahren Scheinumsätze in die Bilanzen einflossen.
Während CEO Markus Braun und Manager Oliver Bellenhaus den Ermittlern gegenüber auspacken, werden Chatprotokolle des flüchtigen Ex-Vorstands Jan Marsalek enthüllt, in denen er mit Kontakten zu Geheimdiensten prahlt.
Unterdessen wird aber auch klar: Die Finanzaufsicht BaFin hatte Hinweise auf Unregelmäßigkeiten bei Wirecard. Finanzminister
Die Schlüsselfiguren im Wirecard-Skandal
Gegen CEO Braun und seinen Vize Marsalek wurde anfänglich wegen Bilanzfälschung, Veruntreuung von Finanzvermögen und Marktmanipulation ermittelt. Mittlerweile kommen Betrug und gemeinschaftlicher Betrug hinzu. Braun wurde gegen eine Kaution in Höhe von fünf Millionen Euro und Auflagen auf freien Fuß gesetzt. Marsalek ist nach wie vor flüchtig, vermutlich mit gefälschten Papieren.
Dem früheren Geschäftsführer der Konzerntochter Cardsystems Middle East in Dubai, Oliver Bellenhaus, wird schwerer gemeinschaftlicher Betrug und Beihilfe zu anderen Straftaten vorgeworfen. Er hat sich freiwillig den Behörden gestellt und sitzt in Untersuchungshaft. Aufgrund von Flucht- und Verdunkelungsgefahr bleibt er ihn Haft.
Die Gesellschaft in Dubai machte etwa ein Drittel des ausgewiesenen Konzernumsatzes aus. Ein Großteil dieses Umsatzes soll aus dem mutmaßlich betrügerischen Drittpartnergeschäft stammen und möglicherweise nur auf dem Papier existiert haben. Beim Thema Drittpartnergeschäft soll sich Bellenhaus bei den Vernehmungen in Widersprüche verwickelt haben.
Von einem Geständnis war zu lesen, allerdings äußerte der Anwalt des Managers gegenüber dpa, dass von einem Geständnis nicht die Rede war. Interessant dürfte sein, dass er viel über den flüchtigen Marsalek weiß.
Führen Chatprotokolle auf die Spur von Jan Marsalek?
Eine Spur zum Aufenthaltsort Marsaleks liefern könnten die kürzlich beim "Handelsblatt" veröffentlichten privaten Chatprotokolle über den Messengerdienst Telegram, die dem Handelsblatt vorliegen. Marsalek hatte sich zwei Wochen vor dem Skandal ein neues Smartphone gekauft, zur "rein privaten" Nutzung, wie er betonte.
Im Chat mit einem Vertrauten prahlte er wohl damit, mehrere Pässe zu besitzen und Verbindungen zu Geheimdiensten zu haben. Seine Ausführungen schwanken zwischen Zuversicht und Galgenhumor. Seine fristlose Kündigung sieht er kommen.
Einem Bericht des "Spiegel" zufolge könnte sich Marsalek in Belarus aufhalten. Im russischen Ein- und Ausreiseregister, das auch das benachbarte Belarus umfasse, sei für Marsalek eine Eintragung nur Stunden nach seiner Freistellung bei Wirecard zu finden, so der Bericht am Samstag.
Demnach sei Marsalek in der Nacht vom 18. auf den 19. Juni kurz nach Mitternacht über den Flughafen der Hauptstadt Minsk nach Belarus eingereist. Der "Spiegel" berief sich auf gemeinsame Recherchen mit den Investigativplattformen "Bellingcat" aus Großbritannien, "The Insider" aus Russland" und "McClatchy Report" aus den USA.
Eine Wiederausreise Marsaleks sei in den Datenbanken bislang nicht verzeichnet. Das deute darauf hin, dass sich der Manager weiterhin in Belarus oder in Russland befinde.
Die Rolle von Finanzminister Olaf Scholz
Bei Bekanntwerden des Wirecard-Skandals zeigte sich Finanzminister Scholz schockiert. Doch wirklich überrascht konnte er von der Entwicklung eigentlich nicht sein. Denn aus einem Sachstandsbericht des Finanzministeriums an den Finanzausschuss geht hervor, dass Olaf Scholz seit langem vom Verdacht der BaFin, die dem Finanzministerium unterstellt ist, wusste.
Im Bericht heißt es, dass Scholz am 19. Februar 2019 informiert worden sei, dass die BaFin gegen Wirecard "wegen des Verdachts des Verstoßes gegen das Verbot der Marktmanipulation" in alle Richtungen ermittle.
Wie kann es sein, dass seit 2019 nichts unternommen wurde?
Aufgrund jahrelanger Hinweise ermittelte die BaFin wegen Marktmanipulationen. Allerdings war wohl nur ein einziger Mitarbeiter für Wirecard zuständig. Man sei den Vorwürfen nachgegangen, habe auch mit Bußgeldern, Prüfungen und Durchsuchungen reagiert, aber offenbar nicht das ganze Ausmaß erkannt.
Am 19. Februar 2019 wurde Minister Scholz über die Ermittlungen der BaFin unterrichtet. Er hätte also bereits vor mehr als einem Jahr etwas unternehmen können. Er gab seine Informationen über Wirecard allerdings nicht ans Parlament weiter. Wollte er die Gefahr nicht sehen oder hat er sie unterschätzt?
Die Rolle des Kanzleramtes
Laut einem Medienbericht unterstützte das Kanzleramt Wirecard noch im Herbst 2019 bei dessen geplanten Markteintritt in China. Bundeskanzlerin Merkel sprach mit Karl-Theodor zu Guttenberg über die Expansionspläne Wirecards. Guttenbergs Investment- und Consultingfirma Spitzberg Partners beriet Wirecard bei der Expansion nach China.
Wirecard zeigte in der Folge Interesse an der chinesischen Firma AllScore Payment Services, der Verflechtungen in der Glücksspielbrache nachgesagt werden. Auch dies wirft kein gutes Licht auf Wirecard.
Verwendete Quellen:
- Bundesministerium der Finanzen: Sachstandsbericht und Chronologie Wirecard - Weiterer Bericht zu Wirecard für den Deutschen Bundestag
- Sueddeutsche.de: Scholz wusste seit Februar 2019 vom Verdacht auf mutmaßliche Manipulationen
- Sueddeutsche.de: Geständnis im Wirecard-Skandal
- Handelsblatt: Die geheimen Chatprotokolle des Jan Marsalek
- Handelsblatt: Der Wirecard-Scandal könnte Olaf Scholz schaden
- ARD, Tagesschau.de: Hinhaltetaktik in Sachen Wirecard?
"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.