Im Jahr 1939 muss die Familie Klopstock vor den Nazis nach England fliehen. Ihren gesamten Besitz verladen sie in Hochsee-Container - die allerdings nie in England ankommen. Das Umzugsgut bleibt verschollen, bis zwei Forscherinnen aus Bremerhaven aufklären, was damit geschehen ist.

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Fast 80 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs forschen zwei Wissenschaftlerinnen in Bremerhaven nach dem Schicksal des verschifften Umzugsguts damals verfolgter Familien. Ihre Recherchen offenbaren Grausamkeiten, aber auch kleine Wunder. Und sie bringen die Geschichten Tausender Familien ans Licht, die gezwungen waren, im Ausland ein neues Leben zu beginnen.

Mit dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf Polen im Jahr 1939 und der darauffolgenden Kriegserklärung von Großbritannien und Frankreich an das Deutsche Reich kam der zivile Schiffsverkehr in der Nordsee zum Erliegen. Schiffe, die bereits unterwegs waren, mussten umkehren, um nicht im Ärmelkanal angegriffen zu werden.

Einige dieser Schiffe transportierten Container, die das Hab und Gut Tausender Familien enthielten, die zum Beispiel aufgrund ihrer jüdischen Herkunft aus Deutschland fliehen mussten. Darunter befand sich auch die Familie Klopstock.

Zwangsversteigerung durch die Nazis

Kathrin Kleibl und Susanne Kiel sind zwei Wissenschaftlerinnen, die die Geschichten dieser Familien für das LostLift-Datenbank-Projekt am Deutschen Schifffahrtsmuseum in Bremerhaven rekonstruieren.

"Felix Klopstock war ein jüdischer Lungenfacharzt in Berlin. Er wurde 1938 während der Reichspogromnacht verhaftet und kam erst Wochen später wieder frei. Ab diesem Zeitpunkt hat die Familie gemerkt, dass es in Deutschland keine Zukunft mehr gab", sagt Kathrin Kleibl im Gespräch mit unserer Redaktion.

Im Anschluss packte die Familie drei Liftvans – eine alte Bezeichnung für Hochsee-Container aus Holz – und siedelte nach England über. Allerdings nur mit Handgepäck, denn die Container mit dem Hab und Gut kamen nie an. Sie wurden beschlagnahmt und in Lagerhäuser nach Bremerhaven gebracht. Die jüngste Tochter der Familie, Eva, war zu diesem Zeitpunkt 14 Jahre alt.

Gestapo versteigert Hab und Gut von Geflüchteten

"Es war schon Anfang 1940, dass diese Liftvans Begehrlichkeiten weckten, allen voran bei der Gestapo", sagt Susanne Kiel. "Wir haben dann Anzeigen in Zeitungen, dass dieser Besitz öffentlich versteigert wurde. In Bremen über 800 und in Hamburg – damals schon der größere Hafen – viermal so viel."

Auf diesen Versteigerungen verkaufte die Gestapo das gesamte Eigentum an willige Käufer und Händler - Erbstücke, Kunst, wertvolle Kleidung. Während die Familie Klopstock in England aus ihren Koffern lebte, kam bei der Versteigerung in Bremerhaven unter anderem die wertvolle Praxisausstattung des Vaters unter den Hammer.

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Kathrin Kleibl konnte in den Versteigerungsakten einige Käufer ausfindig machen: "Unter anderem war eine Gynäkologin unter den Käufern. Wir wissen von dieser Gynäkologin, dass sie Zwangsabtreibungen an Zwangsarbeiterinnen im KZ in Hamburg durchgeführt hat. Und diese Frauenärztin hat auch in der Nachkriegszeit unbehelligt in Hamburg weiter praktiziert."

Als die ehemaligen Verfolgten nach dem Zweiten Weltkrieg versuchten, ihren Besitz zurückzufordern, stießen sie auf Widerstände durch langwierige Bürokratie und dreiste Lügen ehemaliger Händler. Susanne Kiel: "Viele behaupteten, nicht gewusst zu haben, dass es sich um jüdisches Eigentum handelte. Ein Händler erschien dann aber über 50 Mal in den erhaltenen Versteigerungsprotokollen als Käufer."

Die Vergangenheit ruht lange

Jahrzehntelang wusste die Familie Klopstock nichts über das Schicksal ihres Besitzes und ging davon aus, dass alles durch Bombardierungen zerstört worden war. Das änderte sich durch die Recherchen des LostLift-Datenbank-Projekts, das seit 2018 systematisch Akten, Belege und weitere Dokumente sammelt.

Wie Detektivinnen gehen die Wissenschaftlerinnen den Besitzgeschichten nach. In der Fachwelt wird das Provenienzforschung genannt. In vielen Fällen verläuft die Suche irgendwann im Sand.

Aber nicht immer, wie Kathrin Kleibl erklärt: "Vor Kurzem konnten wir durch unsere Recherchen die Familie bzw. die Tochter in England wieder aufspüren. Die mittlerweile 100-jährige Eva Evans (geborene Klopstock) konnte sich noch sehr gut an die Zeit der Auswanderung erinnern."

Die damals 14-Jährige hatte beschlossen, die deutsche Vergangenheit hinter sich zu lassen, um ein neues Leben in England zu beginnen. So schwieg sie mehr als ein halbes Leben über diesen Teil ihrer Geschichte. Doch durch den Kontakt mit den Wissenschaftlerinnen begann sie wieder zu sprechen.

Zwar haben die beiden Wissenschaftlerinnen Eva Evans ausfindig machen können, über den endgültigen Verbleib von Evas Eigentum aber wissen sie noch nicht Bescheid. Doch die Suche geht weiter, sagt Kathrin Kleibl. Mit alten Fotos, Künstlicher Intelligenz und der Kommunikation mit Museen und Projekten auf der ganzen Welt, "um der Provenienzforschung und auch anderen Museen die Chance zu geben, in unserer Datenbank ein Match zu finden und diese Objekte dann möglicherweise der Familie zurückgeben zu können".

Über die Gesprächspartnerinnen

  • Dr. Kathrin Kleibl und Susanne Kiel arbeiten für das LostLift-Datenbank-Projekt am Deutschen Schifffahrtsmuseum Bremerhaven. Das Projekt ist gefördert vom Deutschen Zentrum Kulturgutverluste.

Verwendete Quellen

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