Kann es mir nicht eigentlich egal sein, wenn ein paar Arten aussterben? Nein, sagt Eckart von Hirschhausen. Der Arzt und TV-Moderator erklärt im Interview, wie wichtig Artenvielfalt ist und wieso sich der Mensch nach und nach sein eigenes Grab schaufelt.
Forschende sprechen von einer Doppelkrise: Klimawandel und Biodiversitätsverlust. Auf der DLD Nature, einer zweitägigen Konferenz in München, sind unter anderem Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zusammengekommen, um über die Herausforderungen von Natur- und Artenschutz und neue Forschungsergebnisse zu sprechen.
Ebenfalls vor Ort war
Herr von Hirschhausen, viele Menschen sind gerne in der Natur. Wenn es aber um die Biodiversität geht, steigen viele aus. Liegt das an der Komplexität des Themas?
Eckart von Hirschhausen: Das liegt mehr an dem unglücklichen Wort. Ich spreche viel lieber vom "Netzwerk des Lebens". Und jede Art, die da kreucht und fleucht, ist ein Knotenpunkt in diesem Netz, in das wir mit affenartiger Geschwindigkeit immer mehr Löcher hauen, bis wir selbst ins Bodenlose fallen. Als Arzt weiß ich, dass die Mehrheit aller Arzneimittel aus der Natur kommen oder von den Substanzen weiterentwickelt wurden. Daher ist es so unfassbar dämlich, dass wir diesen Millionen Jahre alten Erfahrungsschatz, wie Leben auf dieser Erde funktioniert, in so kurzer Zeit vernichten. Wir verbrennen das Buch des Lebens, bevor wir es gelesen haben. Wir löschen nicht nur die Festplatte der Erde, sondern auch ihr Betriebssystem. Suchen Sie sich die Metapher aus, die für Sie am besten funktioniert. Aber alles ist besser als "Biodiversität".
Warum ist dann Artenvielfalt, um einmal das deutsche Wort zu verwenden, so wichtig für unsere Gesundheit?
Gerade drehe ich wieder einen Film für die ARD zum Thema Corona. Gefühlt ist das schon lange her, aber wir übersehen, dass bis heute viele Hundertausende Menschen in Deutschland an Long Covid, an chronischem Erschöpfungssydrom ME/CFS und einige auch an Schäden nach der Impfung leiden. Auch die psychischen Erkrankungen bei Jugendlichen explodieren. Das menschliche Leid ist das eine, das andere die Kosten für die Wirtschaft. Wir bräuchten nur ein Prozent der weltweiten ökonomischen Schäden, um die nächste Pandemie zu verhindern. Das ist doch so hirnrissig und unökonomisch – aber es gibt kein "Geschäftsmodell" für das Verhindern von Katastrophen. Der Verlust von Lebensraum der Tiere, der Verlust von Artenvielfalt und der unkontrollierte Wildtierhandel sind große Treiber der Pandemien. Das war schon bei HIV und Ebola so, das wird auch bei der nächsten Pandemie so sein.
Auf meinem Buch "Mensch Erde - wir könnten es so schön haben" ist ein Sticker "Drei Krisen zum Preis von zwei!". Was wie ein Marketing-Gag aussehen soll, ist die bittere Wahrheit: Die großen Krisen unserer Zeit hängen viel enger miteinander zusammen, als wir das oft in den Medien vermitteln. Das ist die Idee von "Planetarer Gesundheit": Gesunde Menschen gibt es nur zusammen mit gesunden Tieren und einer gesunden Erde.
Inwiefern beeinflusst Artenverlust außerhalb von Pandemien unser Leben?
Nichts von dem, was wir im Supermarkt kaufen, ist im Supermarkt gewachsen. Gerade Menschen wie ich, die in der Stadt aufgewachsen sind, ignorieren gerne unsere Abhängigkeit von "Dienstleistungen" der Natur, die wir für selbstverständlich halten, weil kein "Preisschild" dran ist. Ein kurioses Rechenbeispiel: Was würde ein Glas Honig kosten, wenn die beteiligten Bienen Mindestlohn für ihre Arbeit bekämen? Über 300.000 Euro! Wenn die Bestäuber weg sind, haben wir schlichtweg kaum mehr was zu essen. Das was die Wildbienen und die anderen Insekten leisten, kann kein Roboter, kein Mensch, keine künstliche Intelligenz.
"Ein paar Arten weniger - was hat das denn mit mir zu tun?" Was würden Sie auf diese Aussage antworten?
Klar kenne ich im Sommer das Gefühl, wenn eine Mücke mich im Dunkeln nervt: "Wo ist das Insektensterben, wenn ich es mal brauche?" Aber dann erinnere ich mich, dass wir selbst ja nur existieren, weil wir Biodiversität in uns tragen. Die Bakterien in unserem Darm, das sogenannte Biom, ist ein Abbild der Artenvielfalt um uns herum. Deshalb ist regenerative Landwirtschaft so wichtig, viele verschiedene gute Bakterien im Boden, auf den Pflanzen, in uns – wir sind Natur. Wir haben mehr Lebewesen in uns als eigene Körperzellen. "Die Welt zu Gast bei Freunden" ist das Überlebensprinzip auf unserer Haut und für das Aufschlüsseln unseres Essens. Und es ist eben nicht das eine super-Bakterium, das den Unterschied macht. Sondern die Vielfalt!
Bei der DLD Nature Conference haben Sie vor dem Aussterben der Menschen gewarnt und dabei drei Faktoren genannt. Können Sie diese genauer erläutern?
Die großen "Killer" von Arten sind Klimaveränderungen, neue Seuchen und die Unfähigkeit, sich anzupassen. Alle drei Faktoren sind für uns Menschen heute erfüllt. Aber wir wollen das nicht so gerne hören, dass wir verletzlich sind, dass wir die Dinosaurier und der Meteorit gleichzeitig sind. Deshalb habe ich in meinem Vortrag "Gesunde Erde - Gesunde Menschen" auch dafür geworben, nicht dieselben Fehler in der Kommunikation zu machen wie bei der Klimakrise. Da ging es viel zu lange zu abstrakt um Atmosphärenchemie und Szenarien in der Zukunft und das löst schnell die Reaktion aus: "Ach, so schlimm ist das alles nicht." Ich habe Klangbeispiele eingespielt, wie ein lebendiges Korallenriff klingt und wie ein totes. Wenn wir mit der Schönheit der Natur mit Fotografie, mit Film, mit Musik, mit Humor, mit Kunst die Herzen berühren, bewegt das mehr. Wir brauchen wieder ein Gefühl für die Verbundenheit. Wenn wir Natur schätzen, schützen wir sie auch.
Ein großes Thema, wenn wir über Biodiversität sprechen, sind Pestizide. Inwiefern beeinflussen diese die Biodiversität und unsere Gesundheit?
Dazu gibt es ein aktuelles Beispiel. Fledermäuse haben ein Imageproblem. Sofort denkt man an Vampire, an blutrünstige Wesen, die unsere Kinder aussaugen. Alles Quatsch. Fledermäuse essen Insekten. In den USA hat eine Pilzinfektion zum Massensterben von Fledermäusen geführt. Ging es den Menschen dadurch besser? Im Gegenteil. Im gleichen Zeitraum stieg die Säuglingssterblichkeit. Wie kann das zusammenhängen? Weil die Fledermäuse fehlten, um die Insekten in Schach zu halten, erlitt die Landwirtschaft große Verluste durch jahrelange Ernteausfälle und Mehrkosten von 27 Milliarden Dollar.
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Die Bauern reagierten mit heftigen Insektenschutzmitteln. Von denen weiß man schon länger, dass sie nicht nur für die Insekten schädlich sind, sondern auch für viele in der Nahrungskette, auch uns Menschen. Und plötzlich stieg die Säuglingssterblichkeit in dieser Region. Es zeigt: Alles hängt mit allem zusammen. Und fällt ein Teil in dem Netzwerk des Lebens aus, leiden andere an oft unerwarteten Stellen, auch wir. In Zukunft werde ich mich nicht mehr gruseln, wenn ich nachts Fledermäuse sehe. Ich grusele mich mehr, wenn ich keine zu sehen bekomme!
"Das Teuerste, was wir jetzt tun können, ist nichts!", sagten Sie bei der DLD Nature Conference. In welche Bereiche sollten wir besonders investieren und weshalb?
Ja, der Spruch ist scheinbar paradox, aber er stimmt. Wenn wir weiter machen wie bisher, kostet uns das nach seriösen Studien mindestens sechsmal mehr, als jetzt in Klimaschutz, Artenschutz und Anpassung und eine enkelfähige Zukunft zu investieren. "Artenreichtum" ist ein Reichtum. Ohne Artenreichtum nutzt einem kein Geld dieser Welt mehr. Jedem denkenden und fühlenden Menschen ist doch klar, dass ein Baum im Regenwald, der wächst, gedeiht, atmet, Wasser aufnimmt und verdunstet, kühlt, Schatten spendet, Schutz vor Erosion, Brutmöglichkeiten und Kohlenstoffspeicher alles zugleich ist, nichts mehr wert wird, wenn man ihn abholzt und in Bretter schneidet.
In unserem Wirtschaftssystem ist es aber genau andersherum: Die Bretter kann ich verkaufen. Aber wer zahlt für den Erhalt eines intakten, aber "unproduktiven" Ökosystems? Diesen Systemfehler versuchen gerade viele in internationaler Zusammenarbeit zu korrigieren. Ursula von der Leyen hat das in ihrer sehr bewegenden Ansprache "Put Nature on the balance sheet" genannt – der Erhalt von Natur muss in die Bilanzen der Unternehmen, muss sich auch ökonomisch abbilden lassen und lohnen. Und so wichtig Moore, Streuobstwiesen und intakte Wälder in Deutschland sind, spielentscheidend sind die Gebiete rund um den Äquator. Das Projekt "Legacy Landscape Fund" schützt in der Kombination von privaten Spenden und öffentlicher Förderung die "Juwelen" der artenreichsten Gebiete. Diese Mittel werden gerade still und leise von unserer kurzsichtigen Finanzpolitik gekürzt, das ist ein Skandal.
Was kann jeder Einzelne tun, um die Biodiversität zu erhalten und zu fördern?
Menschen in die Parlamente wählen, die über den Tellerrand denken. Klar hilft es, sich pflanzenbasiert zu ernähren und Bio zu kaufen, wenn man das kann, aber vor allem braucht es die politischen Rahmenbedingungen wie das Europäische Nature Restauration Law, einen hohen CO2-Preis und eine echte Agrar- und Energiewende. In den Medien kommen immer die populistischen Schreihälse, die Traktoren und einige wenige extreme Klimaschützer vor. Die Mehrheit weiß nicht, dass sie die Mehrheit ist. Die Bewahrung der Schöpfung ist ein erzkonservatives Thema. Es gehört keiner Partei, keiner Generation, wir schaffen das nur gemeinsam oder gar nicht. Und deshalb fahre ich gleichermaßen nachdenklich und optimistisch von der DLD zurück. Es gibt so viele tolle, engagierte Menschen, Ideen, Technologien und Projekte. Es braucht jetzt eine klare Priorität und den politischen Willen, das umzusetzen. Wenn wir dieses entscheidende Jahrzehnt mit Scheindebatten verlieren und uns verzetteln, werden wir uns das nie verzeihen. Unsere Kinder und Enkel auch nicht.
Redaktioneller Hinweis:
- Das Interview wurde aus Zeitgründen schriftlich geführt.
Über den Gesprächspartner
- Dr. Eckart von Hirschhausen ist Arzt, TV-Moderator und Gründer der Stiftung "Gesunde Erde – Gesunde Menschen". In seinen Impulsvorträgen möchte er den aktuellen Stand der Wissenschaft leicht vermitteln und Menschen bewegen. Sein Fachgebiet ist die "planetare Gesundheit".
Verwendete Quellen
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