Die Antarktis spielt für das Klima eine entscheidende Rolle. Umso mehr ließ die Nachricht aufhorchen, dass in diesem Jahr ein trauriger Rekord erreicht wurde: Noch nie seit Beginn der Aufzeichnungen gab es im Sommer weniger Meereis am Südpol als Anfang 2023. Torsten Albrecht vom Potsdamer Institut für Klimafolgenforschung erklärt im Interview mit unserer Redaktion, welche Ursachen und Auswirkungen das hat und welche Rolle auch der sogenannte "Weltuntergangsgletscher" in der Antarktis für das Klima spielt.
Herr Albrecht, unlängst wurde vermeldet, dass die Meereisbedeckung in der Antarktis ihren historisch tiefsten Stand erreicht hat. Was genau heißt das?
Torsten Albrecht: Das Sommerminimum der antarktischen Meereisbedeckung hatte bereits im letzten Jahr einen Wert von unter zwei Millionen Quadratkilometern unterschritten. Das ist etwa eine Million weniger als im Durchschnitt über die letzten 30 Jahre, seit wir kontinuierliche Satellitenbeobachtungen rund um den Antarktischen Kontinent haben. Es gibt aber recht große Schwankungen zwischen Sommer und Winter und auch über die Jahre, da spielen ganz verschiedene Wechselwirkungen eine Rolle.
Welche sind das?
Zum einen kann eine eisfreie Wasseroberfläche oder eine mit Schmelzwasser bedeckte Eisoberfläche mehr Sonnenlicht absorbieren und damit das Schmelzen im Sommer verstärken. Anderseits wirkt Meereis auch wie eine Isolationsschicht und dünnes Meereis kann im Winter wieder schneller von unten gefrieren. Winde spielen eine ganz wesentliche Rolle. Paradoxerweise kann auch das durch die Erwärmung zusätzlich produzierte Schmelzwasser vom Schelfeis [große Eisplatte, die auf dem Meer schwimmt und beispielsweise von Gletschern gespeist wird und noch mit diesem verbunden ist; Anm.d.Red.] zu verstärkter Meereisbildung führen. An dieser Nahtstelle zwischen Ozean, Atmosphäre und dem Eisschild gibt es viele komplexe Prozesse, die wir gerade erst besser verstehen lernen.
Sie sprachen vorhin von großen Schwankungen. Können Sie das näher erläutern?
Wir hatten beispielsweise erst 2012 bis 2015 überdurchschnittliche Sommerminima beobachtet. Damals war ich mit dem Forschungseisbrecher "Polarstern" im Weddellmeer [Randmeer des Südlichen Ozeans am antarktischen Kontinent; Anm.d.Red.] unterwegs und es war sehr schwierig voranzukommen. Vor einem Monat war die "Polarstern" auf der anderen Seite der Antarktischen Halbinsel, in der Bellinghausensee unterwegs und konnte sich durch fast eisfreies Wasser bewegen. Es ist also noch nicht klar, ob sich der Negativtrend in den nächsten Jahren fortsetzt. Das Phänomen El Niño könnte aber verstärkt warme und feuchte Luftströmungen bis in die Westantarktis leiten und damit die Schmelze verstärken.
Welche konkreten Auswirkungen hat das?
Die anthropogene, also durch den Menschen verursachte Erwärmung ist mittlerweile sehr deutlich in der Antarktis, insbesondere im westlichen Teil der Antarktis angekommen, wo es auch die größten Auswirkungen auf den Eisschild hat und damit auf den immer schneller ansteigenden Meeresspiegel. Das Meereis schützt das Schelf- und Gletschereis vor Wellenschlag, etwa so wie sich das Getränk im Cocktailglas mit "Crushed Ice" etwas träger bewegt. Das Meereis ist zudem ein unglaublich komplexes und spezialisiertes Ökosystem, das mit Mikroalgen und dem Krill an der Eisunterkante beginnt und damit für die gesamte Nahrungskette bis hin zu den Pinguinen und Walen essenziell ist.
Beschränkt sich das "nur" auf die Antarktis?
Nein, auch in der Arktis, also rund um den Nordpol, wo der anthropogene Erwärmungstrend etwa drei- bis viermal stärker ist als im globalen Mittel, beobachten wir einen sehr deutlichen Trend bei der Sommermeereisbedeckung und der durchschnittlichen Meereisdicke, und das seit über 20 Jahren. Wenn sich dieser Negativtrend im arktischen Meereis fortsetzt, wird die Arktis noch vor 2050 in manchen Sommern nahezu vollständig eisfrei sein, mit schwerwiegenden Folgen für das gesamte Ökosystem. Für das Meereis in der Antarktis aber lässt sich dieser Zusammenhang bisher nicht so klar herstellen. Computersimulationen lassen aber eine deutliche Abnahme auch des antarktischen Meereises in diesem Jahrhundert vermuten.
Wie ist ein möglicher Anstieg des Meeresspiegels damit verbunden?
Meereis ist eine nur wenige Meter dicke Eisschicht, die sich aus Meerwasser an dessen Oberfläche bildet und schwimmt. Dann gibt es noch die wesentlich mächtigeren schwimmenden Schelfeise, die aus mehreren Hundert Meter dickem Süßwassereis bestehen und sich in Jahrhunderten vom Land aufs Meer geschoben haben. Schwimmendes Eis, das schmilzt, lässt den Meeresspiegel nicht nennenswert ansteigen, aber das Meereis schützt das Schelfeis und vermindert die Wahrscheinlichkeit für das Abbrechen von Eisbergen. Das Schelfeis wiederum bremst den Eisfluss des sich dahinter befindlichen Eisschildes, wie ein Korken in der Sektflasche. Versagt dieses Zusammenspiel, gerät die Eisschilddynamik in der Antarktis zunehmend in ein Ungleichgewicht und das lässt dann auch den Meeresspiegel ansteigen. In der Antarktis ist so viel Süßwasser als Eis gespeichert, dass es das Meer um fast 60 Meter ansteigen lassen könnte. Schon kleine Anteile davon wären für die viele großen Städte entlang der Küsten weltweit und für kommende Generationen verheerend.
Welche Rolle spielt die Antarktis generell für das Klima?
Die Antarktis ist ein riesiger weißer Kontinent und das wirkt sich wesentlich auf die Energiebilanz des Erdsystems aus, also wie viel Energie von der Sonne effektiv im Klimasystem bereitsteht. Das zusätzliche Schmelzwasser aus der Antarktis kann sich aber auch auf die Tiefenwasserbildung im Ozean auswirken, die nur in den polaren Regionen in Wechselwirkung mit dem Meereis stattfindet. Und das beeinflusst wiederum die Umverteilung von Energie über den Planeten und damit Temperaturen und Niederschlagmuster weltweit. Das Meer nimmt übrigens einen erheblichen Teil des zusätzlichen CO2 aus der Atmosphäre auf, transportiert es in die Tiefe und hilft uns derzeit, die Erwärmung zu begrenzen.
Vor Kurzem wurde auch berichtet, dass der sogenannte "Doomsday"-Gletscher in der Antarktis schneller zu schmelzen droht als bislang angenommen. Was passiert dort genau? Welche potenziellen Auswirkungen hat das?
Der Thwaites-Gletscher und auch der Pine-Island-Gletscher befinden sich in der Amundsensee in der Westantarktis, einer Region, in der verhältnismäßig warmes Wasser über den Kontinentalschelf bis zum Schelfeis gelangt. Dadurch schmilzt das Schelfeis von unten, Risse verbreitern sich und die Stützwirkung auf den dahinter befindlichen Gletscher geht verloren. Das Besondere dieser Gletscher ist, dass sie auf dem Meeresboden aufliegen und dieser landeinwärts bis in Tiefen von über zwei Kilometer abfällt und diese tief ausgeschürften Fjordsysteme große Teile des Westantarktischen Gletschersystems verbinden. Durch Energiezufuhr vom Meer könnte ein sich dynamisch selbstverstärkender Mechanismus aktiviert werden, der zu einem Kippen der Westantarktis führen würde. Das bedeutet, wenn dieser Kipppunkt überschritten wird, würden große Teile des westantarktischen Eisschildes destabilisiert und langfristig verloren gehen. Dieser Mechanismus wird schon seit über 50 Jahren erforscht. Der genaue Kipppunkt als Temperaturschwellwert lässt sich aber nicht exakt bestimmen. Das Risiko steigt aber jedenfalls ab 1,5 Grad globaler Erwärmung stark an – und da sind wir bereits sehr nahe dran.
Warum wird der Thwaites-Gletscher auch "Weltuntergangsgletscher" genannt? Welche Bedeutung hat er?
In den letzten hundert Jahren etwa hatten wir einen durchschnittlichen Meeresspiegelanstieg von insgesamt etwa 21 Zentimetern weltweit, das meiste davon durch die Erwärmung und Ausdehnung des Meerwassers. Der Anteil der Eisschilde am gegenwärtigen Meeresspiegelanstieg von fast vier Millimetern pro Jahr nimmt stark zu. Der Thwaites-Gletscher ist so groß, dass er allein bereits vier Prozent des Meeresspiegelanstiegs ausmacht. Er gilt als einer der Schlüsselregionen, von der aus der Westantarktische Eisschild, also einer der Kipppunkte im Klimasystem, möglicherweise destabilisiert werden könnte. Damit wären langfristig mehr als drei Meter Meeresspiegelanstieg möglich, was dann auch nicht mehr aufzuhalten wäre. Da haben wir als Weltgemeinschaft heute eine unglaublich große Verantwortung, aber auch noch eine Menge Möglichkeiten, die Rate des Anstieges zu begrenzen, mit einer schnellen Transformation zu Netto-Null-Treibhausgasemissionen.
Und sind solche Begriffe auch unter Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen geläufig oder eher in den Medien?
Nein, das ist wohl eher ein mediales Phänomen. Was nicht bedeutet, dass solche Schlüsselregionen Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen nicht besorgt. Für die Westantarktis gilt das übrigens schon seit den 1970er-Jahren. Aber ich persönlich finde solche Begriffe nicht konstruktiv.
Anfang März wurde das Hochsee-Abkommen zum Schutz der Weltmeere beschlossen. Gibt es etwas Vergleichbares für die Antarktis und andere Eisflächen?
Das ist ein sehr wichtiges Abkommen. Es gibt Stimmen, die den Wert für die Weltgemeinschaft mit dem des Pariser Klimaabkommens vergleichen. Für die Antarktis gibt es tatsächlich schon seit über 60Jahren den Antarktisvertrag, der die friedliche Nutzung des Gebietes südlich des 60. Breitengrads unter Wahrung des ökologischen Gleichgewichts gewährt, die internationale Kooperation fördert und wissenschaftliche Erforschung unterstützt, aber den Abbau von Bodenschätzen oder militärische Übungen untersagt. Für die Arktis gib es den Arktischen Rat, der die Sicherheit in der Region und den Klimaschutz fördern soll. Durch die zunehmende Eisfreiheit im Sommer verändern sich auch Möglichkeiten für den Abbau von Bodenschätzen und für Transportwege. Das wiederum birgt potenzielle geopolitische Konflikte, die im Arktischen Rat verhandelt werden sollen. Ohne Russland ist dies nun aber natürlich sehr schwer.
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