Er ist das Fabelwesen Lateinamerikas: Der Chupacabra tötet Ziegen, Schafe, Hühner und Hunde und verstümmelt sie mit chirurgischer Präzision. Wo er zuschlägt, bleiben blutleere, entstellte Tierkadaver zurück. Was ist dran an der gruseligen Legende?
150 Ziegen und Schafe sterben 1994 im Nordosten Puerto Ricos in einem Umkreis von nur 50 Kilometern und innerhalb von fünf Monaten. Nicht nur die Häufung ist merkwürdig, ihr Tod gibt einige Rätsel auf.
Denn die Kadaver weisen Bisswunden am Hals auf, und sie sind völlig ausgeblutet. Doch verstümmelt sind die Körper nicht, und es gibt keine Anzeichen für einen Kampf. Das ist aber noch nicht genug: Plötzlich sterben in der Region auch Schweine, Hühner, Hunde und Katzen auf diese mysteriöse Weise.
Zwei Jahre lang beflügeln die Funde der so gruselig gestorbenen Tiere die Phantasie vieler Puerto-Ricaner. Manche Menschen so viel Angst, dass sie nicht mehr aus dem Haus gehen wollen. Andere wollen lieber aktiv gegen den Blutsauger vorgehen: Einmal schließen sich über 200 Anwohner zusammen und durchkämmen nachts den Regenwald.
Der Ziegensauger
Aber wer steckt hinter den Attacken? Die Behörden stehen vor einem Rätsel – und viele Menschen spekulieren. Waren es wilde Hunde? Aus der Gefangenschaft ausgebrochene Rhesusaffen? Oder gar Außerirdische?
Die Presse macht schnell einen anderen für die Bluttaten verantwortlich: den Chupacabra. Das ist ein mysteriöses Wesen, über das in Südamerika schon seit Jahrzehnten fabuliert wird. Nach den ersten Berichten gab es 200 angebliche Sichtungen der Kreatur in nur einem Jahr.
Was genau der Chupacabra ist, darüber gehen die Meinungen auseinander. Als sicher gilt: Es ist ein vampirartiges Ungeheuer – oder auch ein "Ziegensauger". Im Spanischen steht "chupar" für saugen, "cabra" heißt Ziege.
Fliegendes, blutrünstiges Chamäleon
Viele Menschen wollen ihn schon gesehen haben: Der Chupacabra ist ein- bis eineinhalb Meter großes Wesen mit Flügeln, fledermausartiger Haut und kurzem Fell. Er kann wie ein Chamäleon die Farbe ändern und hat rote, stechende Augen.
Entlang des Rückgrats trägt er Stacheln, die er beliebig ein- und ausfahren kann. Ansonsten gehen die Beschreibungen ziemlich weit auseinander: Während die einen den Chupacabra als eine Art Alien mit einem sehr großen Kopf und riesigen Augen schildern, findet die überwiegende Mehrzahl, er ähnele einem nackten Kojoten, bewege sich aber wie ein Känguru hüpfend fort.
Auch darüber, um welche Art von Wesen es sich eigentlich handelt, gehen die Meinungen auseinander. Ist es eine bisher unentdeckte Tierart? Oder ein außerirdisches Haustier? Oder gab es womöglich ein geheimes Gen-Experiment der Regierung, bei der ein außer Kontrolle geratener Mutant entstand?
Gibt es das Fabelwesen wirklich?
Doch es gibt keine stichhaltigen Beweise, dass der Chupacabra wirklich existiert. Nie wurde ein lebendiges oder totes Exemplar gefunden. Womöglich ist er also nur ein weiteres Mitglied der fabelhaften Familie mysteriöser Wesen, so wie Bigfoot, der Yeti und das Ungeheuer von Loch Ness.
Aber wie sind dann die Tiere gestorben? Unzählige Kadaver werden untersucht. 300 Autopsien nehmen Tierärzte des puerto-ricanischen Landwirtschaftsministeriums vor. Sie stellen Parallelen wie Bisswunden, Knochen- und Rippenbrüche fest.
Offenbar hat die Tiere etwas Großes angegriffen und gebissen, wahrscheinlich auch umschlungen und gequetscht. Für die Behörden ist damit klar: Raubtiere haben die Ziegen und Schafe attackiert.
Ein Hund statt eines Fabelwesens
Trotzdem glauben immer noch viele Menschen an die Legende vom Chupacabra. Auch deshalb, weil in anderen Teilen der Welt immer wieder mysteriös zugerichtete Kadaver entdeckt werden. In den vergangenen Jahren tauchen sie auch in Chile, Nicaragua und Russland auf.
In Nicaragua sind es im Jahr 2000 in einem Monat mehr als 100 Tiere. Betroffene Bauern gehen selbst auf die Jagd. Einer ist sicher, eines Nachts einen Chupacabra erlegt zu haben. Doch Experten untersuchen das Tier zwei Tage lang und kommen zum Ergebnis, dass vor ihnen ein gewöhnlicher Hund liegt, keine unbekannte Kreatur.
Das ruft Verschwörungstheoretiker auf den Plan. Sie halten diese Erklärung für viel zu einfach, und behaupten, die Regierung habe den Kadaver ausgetauscht. Aber auch in Russland fällt das Urteil der Behörden eindeutig aus.
2014 werden 150 Kilometer südöstlich von Moskau 60 tote und blutleere Schafe gefunden. Die Angreifer sind nach Ansicht der Obrigkeit wilde Hunde.
Wilde Hunde und Schmeißfliegen
In den USA werden in den 1970ern und 1980ern immer wieder Fälle von verstümmelten Tierkadavern gemeldet. Oft sieht der Boden am Fundort wie verbrannt aus, selten gibt es Spuren von Blut, Organe fehlen und die Wunden sehen aus wie durch einen Laser geschnitten.
Hier spricht man nicht vom Chupacabra, besorgte Bürger befürchten Außerirdische oder Satanisten hinter den Gräueltaten.
Der Polizist Herb Marshall will das Phänomen Ende der 1970er-Jahre zusammen mit Tierärzten untersuchen. Sie platzieren einen frischen Kuhkadaver auf einer Wiese und beobachten ihn Tag und Nacht.
Verblüffend: Schon nach kurzer Zeit ist die Haut des Tieres an manchen Stellen aufgeplatzt. Schmeißfliegen legen Eier in weiche Hautstellen wie Augen, Ohren und Geschlechtsorgane. Die Maden trennen das verrottete Fleisch ab, ihr Speichel löst das tote Gewebe auf.
Auch Blut verarbeiten sie ohne Rückstände. Insekten können einen Körper innerhalb kürzester Zeit sezieren, so dass er aussieht wie verstümmelt.
Wenn das Tier nicht an einer Krankheit gestorben ist, kann es auch einem anderen Tier zum Opfer gefallen sein – etwa wilden Hunden. In Lateinamerika gibt es mehrere Rassen mit extrem kurzem Haar.
Viele wild lebende Tiere leiden unter Hautkrankheiten wie Räude. Das Haar fällt an befallenen Stellen aus, die Haut schimmert bläulich. Wer so einen Hund im Dämmerlicht aus der Ferne sieht, kann darin durchaus ein Fabelwesen sehen – eben den Chupacabra.
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