Der Stieglitz hat Künstler und Vogelfreunde inspiriert – und wurde so zum Gefangenen des Menschen. Inzwischen flattert er wieder meist in Freiheit über Wiesen und durch Gärten. Zum Glück.

Eine Kolumne
Diese Kolumne stellt die Sicht von Fabian Busch dar. Informieren Sie sich, wie unsere Redaktion mit Meinungen in Texten umgeht.

Der Onkel meines Vaters war ein Künstler – und für unsere etwas biedere Familie war er durchaus ein Exzentriker. Er formte Skulpturen und malte Bilder, er trug gern bunte Kleidung. Und offenbar hatte er auch eine Vorliebe für bunte Vögel.

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Stieglitze zum Beispiel hat Onkel Martin früher selbst gefangen, hat mir mein Vater erzählt. Dann setzte er sie in Käfige und paarte sie mit Kanarienvögeln. Die Mischlinge aus den entfernt verwandten Arten waren für ihre besonders abwechslungsreichen Farben bekannt.

Ein Vogel wie ein Kunstwerk

Onkel Martin war kein Einzelfall. Der Stieglitz hat Gelehrte, Maler und Vogelhalter über Jahrhunderte fasziniert. Sein blutroter Kopf symbolisiere das Leiden Jesu, hieß es früher. Der Renaissance-Künstler Raffael hat ihn in seinem Gemälde "Madonna mit dem Stieglitz" verewigt. Der Rembrandt-Schüler Carel Fabritius setzte ihm 1654 mit dem "Distelfink" (so der zweite Name des Stieglitzes) ein weiteres Denkmal.

Kein Wunder, schließlich sprechen wir hier von einem echten Hingucker. Der kleine weiß-braune Körper ist verziert mit Markierungen in Schwarz, Rot und Gelb. Das müsse wohl der Deutschland-Vogel sein, hat ein Kollege gesagt, als ich ihm ein Bild zeigte.

Meistens ist er schon wieder weg

Dabei hat der Distelfink etwas Exotisches an sich. So exotisch gar, dass vielen gar nicht bewusst ist, dass es sich um eine einheimische Vogelart handelt. Man findet ihn auf Hecken und über Feldern, am Waldrand, in luftigen Parks und Gärten, aber auch in den Grünanlagen großer Städte.

Wenn man ihn denn findet. Denn meistens erhascht man nur noch einen flüchtigen Blick. Der Stieglitz ist oft gerade noch hier und gleich schon dort. In der Luft bleibt dann nur der etwas brüchige Ruf, der ihm den Namen gab: Sti-ge-litt!

Meistens sind Stieglitze in Gruppen unterwegs. © dpa/Thomas Warnack

Ich habe ihn jedenfalls lange vergeblich gesucht. Früher kannte ich den Stieglitz nur aus Büchern – und mit jedem Blättern wuchs der Zweifel, ob dieser Deutschland-Vogel wirklich in Deutschland lebt. Aber vor ein paar Jahren habe ich dann meinen ersten Stieglitz gesehen. Ganz unvermittelt. Er saß in einem Bäumchen in einem Mannheimer Gewerbegebiet und sang sein etwas hektisches Lied. So als müsse er das noch schnell erledigen, bevor ihm etwas Schlimmes passiert.

Hinter Gittern und an der Kette

"Der Distelfink" von Carl Fabritius. © dpa/akg-images/Andre Held

Vielleicht aus gutem Grund. Denn Onkel Martin war wie gesagt kein Einzelfall. Um das bunte Gefieder und den abwechslungsreichen Gesang zu bestaunen, haben Menschen den Stieglitz jahrhundertelang gefangen und in zu kleine Käfige gesperrt oder sogar an die Kette gelegt.

Auf dem erwähnten Gemälde "Der Distelfink" sitzt ein Stieglitz auf einem goldenen Metallring, das kleine Füßchen mit einem Kettchen befestigt. So faszinierend realistisch ist der Vogel gemalt, dass der Anblick bedrückend erscheint. In dem gleichnamigen Roman von Donna Tartt fragt das Mädchen Pippa, als es den "Distelfink" betrachtet: "Er musste sein ganzes Leben lang so leben?"

Leider ja. In Südeuropa und im arabischen Raum fristet der Stieglitz auch heute noch ein trauriges Dasein als Häftling in winzigen Käfigen. In Deutschland darf er nicht mehr gefangen werden, aber auch hierzulande werden immer noch eingesperrte Wildvögel beschlagnahmt.

Der Stieglitz wagt sich auch in die Städte

Die übergroße Mehrheit der Stieglitze genießt hierzulande aber die Freiheit. Im Frühling, Sommer und Herbst sieht man sie in Gruppen an Disteln turnen oder am Wegesrand nach Samen suchen. Gerade jetzt im August, wenn die Disteln blühen und der frühreife Nachwuchs sich auf das Erwachsenwerden vorbereitet. Im Winter kommen sie mit etwas Glück auch zum Futterhaus.

Ein Stieglitz auf seiner Lieblingsblume, der Distel. © dpa/Zoonar/OLAF JUERGENS

Ohnehin scheinen sie sich in den vergangenen Jahren wieder stärker an den Menschen heranzuwagen, bauen ihre kunstvollen Nester auch in die hohen Astgabeln von Stadtbäumen. Aber immer mit Sicherheitsabstand. Wer sich den Ruf einprägt, wird ihn danach immer wieder hören. Auf einer Fahrradtour, auf einer Streuobstwiese oder – wie ich vor Kurzem – sogar auf einer Dachterrasse mitten in Berlin.

Natürlich wissen sie nichts vom Schicksal ihrer Urahnen. Aber ich stelle es mir trotzdem gern so vor: Dass die Stieglitze uns mit ihrer Unstetigkeit zeigen wollen, wie sehr sie ihre Freiheit genießen - gerade hat man sie entdeckt, da flattern sie auch schon weiter.

Beobachten und Bestimmen

  • Der Stieglitz ist etwas kleiner als ein Spatz – und daher nicht immer leicht zu bestimmen. Auffällig sind sein spitzer elfenbeinfarbener Schnabel und der gelbe Streif am Flügel. Häufig sind die Finken in Trupps auf der Suche nach Samen. Gut zu erkennen sind Stieglitze an ihrem wellenförmigen Flug und den zwei- bis dreiteiligen Sti-ge-litt-Rufen.
  • Rufe und Gesang des Stieglitzes lassen sich unter anderem auf deutsche-vogelstimmen.de nachhören.

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