Höchste Zeit für eine Ehrenrettung der Tauben. Diese Vögel haben einen Absturz sondergleichen hingelegt: vom geliebten Postboten früherer Zeiten zur heutigen Stadtplage, die mancher gern vergiftet sähe. Dabei können Tauben nicht nur Menschengesichter unterscheiden, sie begreifen auch, wie Rechtschreibung funktioniert.
Tauben und Rechtschreibung, wie soll das gehen? Indem die Vögel ein Regelwerk durchschauen, das dem Ganzen zugrunde liegt. Und das geht so: Wenn wir lesen lernen, begreifen wir Wörter als Objekte, die ein bestimmtes Aussehen haben.
Es gibt in unserer Sprache Buchstabenkombinationen, die sehr häufig vorkommen, etwa "CK" wie in Zucker oder in Dackel. Andere gibt es seltener. Und wieder andere kommen gar nicht vor. Im Polnischen etwa finden sich Buchstabenkombinationen, die aus deutscher Sicht extrem ungewöhnlich sind, wie "CZ". Da stutzen wir und sagen, das ist kein deutsches Wort.
Genau solche Regeln begreifen auch Tauben, wie eine Studie aus Neuseeland schon 2016 gezeigt hat. Die Vögel erkennen korrekt geschriebene englische Begriffe und können sie von Nonsens-Wörtern unterscheiden, also von solchen, die zwar wie Wörter aussehen, aber keinen Sinn ergeben.
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So lässt sich zum Beispiel das englische Wort DOTS (Punkte) in das Nichtwort SDTO verwandeln. Nach einer (zugegeben langen) Trainingsphase waren die Tauben imstande, "Wörter von Nicht-Wörtern zu unterscheiden", wie es in der Studie heißt.
Sie erkannten "die orthografischen Eigenschaften von Wörtern und nutzten dieses Wissen, um Wörter zu identifizieren, die sie noch nie zuvor gesehen hatten". Eine Buchstabenfolge wie SDTO markierten sie also – ohne sie zu kennen – als Nonsens-Wort, während sie DOTS als sinnvoll einstuften.
Tauben lernen langsam - aber was sitzt, das sitzt
Einschränkend muss gesagt werden, dass die Anzahl der Testkandidaten mit nur vier Vögeln sehr klein war, was daran lag, dass Tauben zwar unermüdlich lernen, dabei aber äußerst langsam sind. In einem monatelangen Vortraining wurden 18 Tiere getestet, und nur mit vieren lohnte es sich, weiterzuarbeiten.
Tauben können zwar große Datenmengen bewältigen – so wurde 2006 in einem Versuch gezeigt, dass die Vögel sich mehrere Jahre lang an 800 bis 1.200 Bilder erinnern können –, aber sie brauchen viele, viele Trainingsdurchgänge, bis sie das schaffen. Deshalb muss man für ein Experiment Individuen auswählen, mit denen man auch in einer halbwegs passablen Zeitspanne vorankommt.
Insgesamt hat die Orthografie-Studie inklusive Vor- und Nachbereitung drei Jahre verschlungen. Als Erstes lernten die Tauben, an ihre Belohnung zu kommen: Pickten sie mit ihrem Schnabel auf einen Bildschirm, fielen Weizenkörner aus einem Trichter. Anschließend wurden sie mit den ersten Wörtern auf dem Monitor konfrontiert und lernten, welche davon "englisch" aussahen und welche nicht.
Das geschah über sogenannte Bigramme. Das sind Zweierkombinationen von Buchstaben, die in einer Sprache vorkommen. Unsere häufigsten Bigramme sind beispielsweise "ER", "EN" und "CH". Im Englischen ist "TH" die Zweierkombination, die am meisten auftaucht, gefolgt von "HE".
Das Taubengedächtnis überlisten
Jedes Wort, das die Tauben zu sehen bekamen, egal ob echt oder Nonsens, bestand aus vier Buchstaben, wie das Wort DONE, das die Bigramme "DO", "ON" und "NE" enthält. Mithilfe dieser Bigramme lernten die Vögel, ein echtes Wort dadurch zu kennzeichnen, dass sie es auf dem Bildschirm anpickten. Lagen sie richtig, fiel ein Weizenkorn aus dem Trichter. Lagen sie falsch, blieb die Belohnung aus.
Mit den Nonsens-Wörtern sollten die Tauben anders verfahren. Zu jedem Wort, ob sinnvoll oder nicht, erschien auf dem Monitor gleichzeitig das Symbol eines Sterns. Stammte nun ein Wort aus dem Nonsens-Pool, sollten die Tauben auf den Stern picken, statt auf das Wort. Dabei tauchte der Stern stets an anderer Stelle auf, mal über dem Nonsens-Begriff, mal darunter oder nebendran. Auf diese Weise ließ sich ermitteln, ob die Tauben den Unterschied zwischen Wort und Nichtwort auch wirklich erkannten.
Im Gegensatz zu den echten Wörtern stammten die Nonsens-Gebilde wie etwa UPSR aus einem riesigen Pool von rund 8.000 Begriffen. Jedes Nichtwort sollte nur einmal auftauchen, um das enorme Gedächtnis der Tauben auszutricksen. Die Forschenden mussten vermeiden, dass die Vögel einfach alles auswendig lernten. Sonst hätten sie nur erneut bewiesen, wie merkfähig Tauben sind, aber nicht gezeigt, dass die Tiere auch das Regelwerk begreifen.
Anfällig für Fehlerteufel – wie wir
Schließlich gelang es den vier Kandidaten im Lauf ihres Trainings, bis zu 58 korrekt geschriebene englische Begriffe von den Nonsens-Wörtern zu unterscheiden, mit einer Treffsicherheit von rund 70 Prozent.
Was das Forschungsteam aber noch mehr verblüffte: Die Tauben begriffen nicht nur wie Lesen lernende Erstklässlerinnen und Erstklässler, was ein Wort von einem Nichtwort unterscheidet. Sie machten in ihrem Lernprozess auch exakt dieselben Fehler. So erkannten sie manchmal einen Buchstabendreher einfach nicht.
Das ist der sogenannte Transposed-Letter Effect, ein gefürchteter Fehlerteufel, bei dem das Gehirn einen Rechtschreibfehler unsichtbar macht. Blicken wir beispielsweise auf das falsch geschriebene Wort "Zukcer", kann es uns passieren, dass wir den Buchstabendreher übersehen, weil unser Hirn "Zucker" liest, obwohl das gar nicht dasteht.
Tauben unterläuft dieser Fauxpas ebenfalls – und das ist bemerkenswert. Denn der Transposed-Letter Effect kommt bei Menschen nur dann vor, wenn sie bereits rudimentäre Lesekenntnisse besitzen, so wie Kinder, die gerade das Alphabet lernen. Wer überhaupt nicht lesen kann und sich an solchen Studien beteiligt, fällt nicht darauf herein. Tauben sind da schon ein ganzes Stück weiter.
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Verwendete Quellen
- pnas.org: Orthographic processing in pigeons (Columba livia)
- pnas.org: Evidence for large long-term memory capacities in baboons and pigeons and its implications for learning and the evolution of cognition
- informatik.hu-berlin.de: Häufigkeitsverteilung von Einzelbuchstaben
- mathcenter.oxford.emory.edu: Letter Frequencies in English
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