• Die AHA-Regel "Abstand halten, Hygiene betreiben, Alltag mit Maske" bleibt zur Vermeidung von Infektionen in der vierten Corona-Welle essenziell.
  • Soziale Nähe ist ein menschliches Grundbedürfnis. Durch Berührungen entsteht das Gefühl von Zugehörigkeit. Auch biopsychologische Wirkungen stellen sich ein.

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Die AHA-Regel besagt: "Abstand halten", "Hygiene betreiben" sowie "Alltag mit Maske". Hinzu kommt häufig noch ein weiteres A für "Corona-Warn-App nutzen" und L für "Lüften". All das dient dazu, Infektionen mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 zu vermeiden. Insbesondere Ungeimpfte sind zurzeit besonders stark gefährdet, sich zu infizieren und einen schweren Verlauf mit COVID-19 zu erleiden.

Das zeigen die Patientenzahlen auf den Intensivstationen ebenso wie die Inzidenzen unter Ungeimpften. Doch auch Geimpfte können das Coronavirus übertragen und sollten sich deshalb dringend weiterhin an die AHA-Regeln halten, wie auch das Robert-Koch-Institut und das Bundesministerium für Gesundheit betonen.

Köperkontakt ist menschliches Grundbedürfnis

Doch gerade der erste AHA-Punkt, Abstand halten, fällt den meisten Menschen schwer. "Körperlicher Kontakt gehört zu den Grundbedürfnissen", erklärt der Psychologe Thilo Hartmann. "Kleinkinder können sich ohne körperliche Zuwendung nicht gesund entwickeln. Aber auch bei Erwachsenen sind körperliche Berührungen und Nähe einer der wichtigsten Schutzfaktoren, die uns gesund halten, Stress abbauen und aus denen wir Wohlbefinden schöpfen."

Körperliche Nähe hält uns also gesund, kann aber gefährlich werden, wenn durch sie das Coronavirus übertragen wird. Ratsam ist es in der aktuellen Situation daher, den Personenkreis, mit dem körperliche Nähe ausgetauscht wird, zu reduzieren. Beispielweise reicht es möglicherweise, innerhalb der Kernfamilie, der Partnerschaft oder dem engsten Freundeskreis zu umarmen und zu kuscheln. Zusätzliche Sicherheit können zusätzliche Corona-Tests geben. Im Rahmen von Veranstaltungen wie Karneval Küsschen zu verteilen, Bekannte zu umarmen oder jedem Geschäftspartner die Hand zu schütteln, sollte eher verzichtbar sein.

Warum wir uns so sehr nach dieser körperlichen Art des sozialen Miteinanders sehnen, sieht Hartmann vor allem in zwei Faktoren begründet. Einer von ihnen ist der hohe Wert, den soziale Berührungen und zwischenmenschliche Kontakte mit sich bringen: "Für unsere Gesundheit und das Wohlbefinden sind der soziale Kontakt zu anderen Menschen und das Gefühl der Zugehörigkeit besonders wichtig", so der Experte. Im Kleinkindalter werde diese Bindung hauptsächlich durch den Körperkontakt zu den wichtigen Bezugspersonen hergestellt. "Später können wir dieses soziale Kontaktbedürfnis auch auf Freunde und Bekannte ausweiten und so unser Wohlbefinden steigern", so Hartmann.

Abstraktes Risiko vs. vermeintlich sichere Umgebung

Zweitens fällt es uns seiner Einschätzung nach schwer, die abstrakte Risikoeinschätzung durch eine Inzidenz auf unser privates Verhalten anzuwenden. "Hier wirkt auch das Phänomen der 'kognitiven Dissonanz'", weiß der Psychologe. Das bedeutet, dass wir enge Freunde und die Familie als sichere Umgebung wahrnehmen.

"Das gibt uns Halt und ist ein sehr hoher Wert", betont Hartmann. "Wenn sie durch eine hohe Corona-Inzidenz ein Risiko darstellen können, entsteht ein innerer Konflikt. Bezugspersonen können nicht gleichzeitig eine Ressource und ein Risiko sein." Die Menschen versuchen dann, diesen Konflikt aufzulösen. Ein Weg bestehe dann darin, das Risiko einer Ansteckung geringer zu empfinden, um dadurch die Beziehung aufrecht zu erhalten. "Der andere Weg ist, das Risiko zu fokussieren und den Wert der Beziehung in Frage zu stellen", so der Experte.

Körper und Psyche reagieren auf Berührungen positiv

Zudem haben soziale Berührungen eine biopsychologische Bedeutung für unseren Organismus. Durch sie schüttet das Gehirn unter anderem die Botenstoffe Oxytocin und Dopamin aus. "Oxytocin wird oft als Kuschelhormon bezeichnet und ist mit unserem sozialen Bindungssystem assoziiert", so Hartmann. "Es sorgt aber auch für einen Anstieg endogener Opiate, was schmerzlindernd wirkt. Dopamin ist unserem Belohnungssystem zugeordnet und macht uns glücklich. Zusammen wirkt das auch beruhigend auf den Magen-Darm-Trakt, senkt die Herzfrequenz sowie den Blutdruck und verringert dadurch das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen."

Kontaktbeschränkungen und Lockdowns können daher unser Wohlbefinden stark negativ beeinflussen. Wer in einer festen Beziehung oder einer unterstützenden Familie lebt, kann dabei oft länger auf zusätzliche Kontakte und körperliche Nähe von außen verzichten als Alleinstehende.

Jugendliche leiden besonders unter Kontaktbeschränkungen

Zudem sei eine solche Situation besonders für Jugendliche schwer, betont der Familiencoach. "Die primäre Entwicklungsaufgabe von Jugendlichen und jungen Erwachsenen besteht darin, sich vom Elternhaus abzulösen und eine eigene soziale Gruppe aufzubauen", so Hartmann. Sie seien in den Lockdowns in ihrer Entwicklung massiv behindert worden.

"Um eine eigene Identität zu entwickeln, ist es zwingend notwendig, sich mit vielen verschiedenen Menschen auseinander setzen zu können. Dies wird den Jugendlichen stellenweise unmöglich gemacht. Außerdem werden sie medial oft als unsozial und egozentrisch dargestellt, ohne dass dieses Dilemma gewürdigt wird", kritisiert der Experte.

Diese sozialen Kontakte können auch durch virtuelle nicht ausreichend ersetzt werden, weiß Hartmann. Denn gerade die biopsychologischen Wirkungen von sozialen Berührungen können sich dann nicht einstellen. "Trotzdem sind virtuelle Kontakte eine Möglichkeit, zumindest teilweise das Bedürfnis nach Zugehörigkeit zu befriedigen", so der Psychologe.

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Über den Experten: M.Sc.-Psych. Thilo Hartmann ist Coach und Supervisor in Berlin. Er arbeitet seit über zehn Jahren im Bereich der Kinder-, Jugend- und Familienhilfe. Für den Berufsverband der Deutscher Psychologinnen und Psychologen e.V. ist er in den Leitungsteams der Fachgruppe klinische PsychologInnen in der Kinder- und Jugendhilfe sowie in der Fachgruppe Entspannungsverfahren engagiert.

Verwendete Quellen:

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Daten aus mehreren Bundesländern zeigen, dass sich deutlich mehr ungeimpfte Menschen mit dem Coronavirus infizieren als Menschen mit Impfschutz. Wie Experten die Zahlen erklären.
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