- Kultureller Wandel und Internationalisierung führen dazu, dass das "Duzen" immer mehr Einzug in den Sprachgebrauch in Deutschland hält.
- Auch in der Arbeitswelt und in der Schule wird immer öfter über eine Abkehr vom formellen "Sie" zum "Du" diskutiert.
- Wir haben mit zwei Benimm-Expertinnen gesprochen und erklären, woher das Siezen überhaupt kommt und welche unterschiedlichen Auswirkungen Duzen oder Siezen haben.
Durch das Siezen drücken wir unserem Gesprächspartner Respekt und Wertschätzung aus, gleichzeitig entsteht dadurch eine gewisse Distanz. Duzen wir jemanden, fühlen wir uns eher verbunden. Ein "Du" steht für Vertrauen, kann aber auch angreifbar machen, da die Distanz wegfällt. Ob das "Du" an manchen Stellen auch problematisch sein kann, klären wir in einem Interview mit Chiara M. Meidinger, Trainerin für Business-Etikette, und Linda Kaiser, stellvertretende Vorsitzende der Deutschen Knigge-Gesellschaft.
Wie hat sich das "Sie" eigentlich historisch entwickelt?
Linda Kaiser: Es gibt in der Ansprache grundsätzlich drei Variablen. Einmal die biologische, bei der das Lebensalter eine Rolle spielt. Dann die soziale Variable, bei der die Situation entscheidend ist, und die situative, bei der es auf den formellen Rahmen ankommt, in dem man sich trifft. Das hat sich durch den Sprachgebrauch durchgezogen und sich immer mal wieder umgekehrt. Respekt und Wertschätzung können am einfachsten durch Sprache kommuniziert werden. Schon zu Urzeiten war deshalb eine soziale Variable in der Ansprache vorhanden, sie erklärte sich nach hierarischem Rang. Beispielsweise wurden Gutsherren im Mittelalter gesiezt und das niedere Volk geduzt, um die Standesunterschiede herauszustellen.
Und wann hat sich das gedreht?
Ein wichtiges Ereignis bezüglich der Anrede war die Französische Revolution, hier fand der Gedanke der Gleichheit auch in der Sprache Einlass. Es kam zu einer Abschaffung des "Sie" aus dem Sinne der Gleichheit, es wurde staatlich verordnet, dass man sich duzte. In der Biedermeierzeit folgt dann aber wieder ein Rückschritt, als sogar die eigenen Eltern gesiezt wurden. Wer etwas auf sich hielt, siezte sich, auch im Familienkreis. Klare Abgrenzung zu Intimität in der Familie und Formalität gegenüber allem, was nach draußen ging, wurde durch die Sprache ausgedrückt. Es gab dann aber umgekehrt auch immer wieder Strömungen, das solidarische Bekenntnis und der Gleichheitsgedanke in der DDR oder die Titelverweigerung der 68er-Bewegung, die das "Du" wieder in den Vordergrund stellten.
Wie ist der derzeitige Trend in Deutschland?
Kaiser: Es ist eine ständige Bewegung, es geht mal in die eine, mal in die andere Richtung. Ich möchte nicht ausschließen, dass ein flächendeckendes "Siezen" nach einer Inflation des "Duzens" dann plötzlich wieder eingerichtet wird. Denn das Verwenden beider Anrede-Formen hilft uns, uns besser zu orientieren. Das mag von Person zu Person verschieden sein und ist auch abhängig davon, wo man sich bewegt. In den sozialen Medien hat sich das "Du" durchgesetzt. Auch wer sich beruflich zugehörig fühlt, duzt sich häufiger und stellt so eine Zusammengehörigkeit her. Aber alles, was per Dekret verordnet wird, funktioniert nicht. Sprache muss wachsen. Vielleicht entsteht eine "Duz"-Kultur in kleinen Gruppen und entwickelt sich dann weiter oder es bleibt in den Gruppen verhaftet. Aber das kann und sollte man nicht steuern, weil das dem Bedürfnis der Menschen nach persönlichem Ausdruck widersprechen würde.
Chiara M. Meidinger: Viele Trends beziehungsweise Gegebenheiten aus Amerika kommen auch irgendwann zu uns, gerade da einige große Unternehmen, die in Deutschland vertreten sind, ihren Sitz in den USA haben. Grundsätzlich herrscht in Amerika ein weniger formelles Miteinander in der Arbeitswelt, da es die Distanz durch die unterschiedliche Anrede nicht gibt, jeder spricht sich mit "you" an. Das wird von vielen geschätzt und das wünschen sich einige Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen auch hier. Das "Duzen" ist tatsächlich eine Art Trend und überall Thema, viele Unternehmen möchten jünger wirken und sich für junge Bewerberinnen und Bewerber attraktiv präsentieren. Ob das "Sie" oder die Erlaubnis zu duzen tatsächlich etwas mit der Unternehmenskultur zu tun hat, ist fraglich. Aber ein Unternehmen, das kein wertschätzendes Miteinander pflegt, wird auch durch ein "Du" kein besserer Arbeitgeber.
Warum kann das "Sie" in einer Gesellschaft aber auch notwendig oder von Vorteil sein?
Kaiser: Um Distanz darzustellen. Ich bin ja nicht mit jedem, den ich treffe, gleich befreundet. Das ist eine Konditionierung in der Sprache, dass man jemanden, den man nicht gut kennt, mit etwas Distanz und Höflichkeit entgegentritt. Es kommt schneller zu einem "Du", wenn wir gleiche Ziele oder Interessen haben, beispielsweise durch Arbeitsgruppen oder im Sportverein.
Meidinger: Es ist in einer Gesellschaft wichtig, das "Sie" beizubehalten, um die gesellschaftlichen Rollen im sozialen Miteinander klar zu definieren. Das formale "Sie" kann ja schnell in ein "Du" umgewandelt werden, wenn gegenseitige Sympathie identifiziert wird.
Was macht es mit uns, wenn wir gesiezt beziehungsweise geduzt werden?
Meidinger: Wenn Konflikte entstehen, fällt es Menschen beim "Sie" leichter, Distanz zu wahren und Dinge weniger an sich heranzulassen. Ich wünsche mir, dass wir das "Siezen" nicht so negativ sehen, denn Distanz kann auch schützend wirken. Ein "Du" ist privater und manche Menschen schaffen es dadurch, leichter zwischen ihren Vertrauten und der Personen im beruflichen Umfeld zu unterscheiden. Das "Du" bietet im Privaten immer die ältere Person, im beruflichen die ranghöhere Person an. Ein einmal gewährtes "Du" kann man nur schwer wieder rückgängig machen.
Kaiser: Im allgemeinen Sprachgebrauch ist das "Du" zweischneidig zu sehen, einmal als Diskriminierung, vor allem im historischen Kontext, in dem Sinne, dass vermeintlich niedriger gestellte Personen geduzt wurden - die niederen Angestellten, die Bauern und Handwerker - oder es kann das genaue Gegenteil ausdrücken und eine Auszeichnung für jemanden sein, dem ich mich verbunden fühle, den ich gut kenne, dem biete ich das "Du" an. In der heutigen Rezeption ist es so, dass das "Du" Intimität voraussetzt, Zuneigung oder wenigstens Wohlwollen, damit wir das "Du" uneingeschränkt akzeptieren können. Deshalb fällt es uns auch schwer, wenn wir plötzlich im Unternehmen geduzt werden, weil eine Zusammengehörigkeit suggeriert wird, die nicht gewachsen ist.
Könnte ständiges Duzen problematisch werden, etwa weil Kinder den Respekt vor den Erwachsenen verlieren?
Meidinger: Das Problem mit dem Respekt ist auf jeden Fall gegeben und ich denke auch, dass es Schülerinnen und Schülern schwerer fallen würde, sich dann später in einem Unternehmen Hierarchieebenen unterzuordnen. Denn es ist ein Mythos, dass in deutschen Unternehmen schon so viel geduzt wird, in den meisten wird nämlich noch gesiezt und das vermutlich auch noch viele Jahre. Mit einer formalen Ansprache wird dieser Lernprozess klarer durchgeführt und kann dann, sobald die Zeit dafür gekommen ist, einfacher aufgelockert werden. Die angenommene Distanz beim Siezen ist nicht nur negativ zu bewerten. Distanz hilft dabei, die Rolle von Schülern und Schülerinnen und Lehrkräften klar zu definieren und ein geregeltes Miteinander zu begünstigen.
Verwendete Quellen:
- Bund Deutscher Unternehmensberater (BDU): Der Trend mit dem "DU“ – Die Botoxspritze für Unternehmen?
- Universität Oldenburg: Wissenschaftliche Analyse Duzen und Siezen
Korrektur: In einer früheren Version war ein missverständlicher Abschnitt über die Anrede "you" im Englischen enthalten. Wir schrieben, es sei nicht eindeutig geklärt, ob das übrig gebliebene "you" nicht doch das "Sie" sei und nicht das "Du", wie alle glaubten. Es spricht allerdings viel dafür, dass das ursprüngliche "Du" (Engl.: "thou") weggefallen ist und das heutige "you" daher das förmliche "Sie" ist. Wir haben den Absatz aus Gründen der Klarheit entfernt.
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