An welchem Punkt beginnt eigentlich sexualisierte Belästigung am Arbeitsplatz? Mit dieser Frage hat sich Franziska Saxler in ihrem Buch "Er hat dich noch nicht mal angefasst" beschäftigt. Im Interview mit unserer Redaktion spricht sie über Machtdemonstration, die Schuldfrage sowie Mythen rund um sexualisierte Gewalt.
Frau Saxler, wo beginnt sexualisierte Belästigung?
Franziska Saxler: Sexualisierte Belästigung beginnt an dem Punkt, an dem eine Person sich aufgrund ihres Geschlechts herabgewürdigt, erniedrigt oder kleingehalten fühlt. Es ist eine Form der geschlechterbezogenen Diskriminierung, bei der sexuelle Inhalte genutzt werden können. Häufig ist das auch der Fall, es muss aber nicht immer so sein. Aus diesem Grund verwende ich auch den Begriff "sexualisierte Belästigung", weil damit auch Verhaltensweisen eingeschlossen werden, die keinen sexuellen Inhalt haben.
Können Sie ein Beispiel dafür nennen?
Wenn etwa eine Führungskraft eine Mitarbeiterin immer wieder zum Essen einlädt, obwohl diese bereits mehrfach kommuniziert hat, an einem privaten Treffen außerhalb der Arbeitszeit kein Interesse zu haben. Lässt die Person dennoch von den Nachfragen nicht ab und wahrt die Grenzen der Mitarbeiterin nicht, sprechen wir von so einem Fall. Insofern beginnt sexualisierte Belästigung in dem Moment, in dem eine Person eine Grenzüberschreitung fühlt, die sie auf ihr Geschlecht zurückführen kann.
In Ihrem Buch "Er hat dich noch nicht mal angefasst" befassen Sie sich ausführlich mit sexualisierter Belästigung am Arbeitsplatz. Ist allen Betroffenen eigentlich gleichermaßen bewusst, dass sie im Job belästigt werden?
Ganz bestimmt nicht. Der Prozentsatz, dem bewusst ist, dass das Verhalten einer Person am Arbeitsplatz unter die psychologische Definition von sexualisierter Belästigung fallen würde, ist sehr gering. Das liegt daran, dass unser Bild von Belästigung sehr mythenbehaftet ist. Mit Belästigung verbinden viele Menschen ausschließlich das Bild, dass ein Mann eine Frau hinter verschlossenen Türen zu Handlungen zwingt oder gegen ihren Willen anfasst. Diese Wahrnehmung liegt häufig an den Schuld- und Schamgefühlen, die bei den Betroffenen entstehen, die zur Folge haben, dass sie kaum über ihre Erfahrungen sprechen. So bleiben alte, mythenhafte Vorstellungen von Belästigung bestehen.
Warum empfinden Betroffene von sexualisierter Belästigung häufig Schuld?
Zum einen sind die Opfer sexualisierter Belästigung in den meisten Fällen weiblich sozialisierte Menschen, denen schon in ihrer Kindheit anerzogen wird, sich mehr zu hinterfragen und schuldig zu fühlen. Die Forschung zeigt, dass weiblich sozialisierte Personen ihr Verhalten stärker infrage stellen, woraus ein entsprechendes Schuldgefühl entstehen kann. Zum anderen sprechen wir bei sexualisierter Gewalt von einem Problem mit einer langen Historie. Dieses Problem wird häufig so lange negiert, bis es irgendwann normalisiert wird. Dadurch sind zahlreiche Mechanismen entstanden, die Betroffene gewissermaßen mundtot machen. Zu diesen Mechanismen gehört auch die Schuldfrage.
Was meinen Sie konkret damit?
Bei sexualisierter Gewalt steht immer die Frage "Kannst du das denn auch beweisen?" im Raum. Dadurch wird ein strafrechtlicher Diskurs herangeführt, der die Betroffenen häufig zum Schweigen bringt. Das ist fatal. Denn die meisten Betroffenen wollen die andere Person nicht zwingend bestrafen oder dafür sorgen, dass sie ihre berufliche Position verliert. Was sie wollen, ist, in Ruhe und Sicherheit ihrer Arbeit nachgehen zu können. Deswegen ist es wichtig, dass wir auch über Fälle sprechen, die nicht strafrechtlich relevant sind.
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Nichtsdestotrotz haben viele Betroffene von sexualisierter Belästigung am Arbeitsplatz womöglich Sorge vor einem schwierigen Arbeitsklima oder sogar Angst um ihren Job. Was gilt es in diesem Fall zu tun?
So viel Mitgefühl für sich selbst aufzubringen, wie man nur aufbringen kann. Ich rate Betroffenen an dieser Stelle, den Austausch mit Menschen zu suchen, die bereit sind, ihre persönliche Perspektive zu sehen. Das können Freunde oder Freundinnen sein oder auch Beratungsstellen. Möchte eine Person eine offizielle Beschwerde einlegen, was ein mutiger Schritt ist, sollte auf den Umgang mit dem Fall geachtet werden. Denn die Menschen müssen verstehen, dass die Kürze des Rocks, den eine Frau trägt, nichts damit zu tun hat, dass eine andere Person Grenzen überschreitet.
Mit Sätzen wie "Was hat sie getragen?" oder der von Ihnen für Ihren Buchtitel verwendeten Reaktion wie "Er hat dich noch nicht mal angefasst" findet eine sogenannte Täter-Opfer-Umkehr statt. Was braucht es, um diese Spirale zu verlassen?
Ganz maßgeblich braucht es flächendeckende Aufklärung. Wir sind in der MeToo-Debatte mittlerweile an einem Punkt, an dem sie nicht mehr alleine von Frauen getragen werden kann. Keine Frage, wir sind mit der Debatte sehr weit gekommen, aber das alleine reicht nicht aus. In diesem Zusammenhang zitiere ich immer gerne eine Gesprächspartnerin, die ich im Rahmen meiner Buchrecherche interviewt habe: "Belästigung ist kein Frauenproblem. Es ist ein Männerproblem." Deswegen ist es meiner Meinung nach der nächste Schritt, der in diesem Diskurs ansteht, dass Männer sich positionieren und beginnen, über ihre eigene Sozialisierung zu reflektieren.
Findet Machtmissbrauch am Arbeitsplatz ausschließlich im Führungskraft-Mitarbeitenden-Verhältnis statt?
Es ist nicht so, dass Machtmissbrauch und sexualisierte Belästigung am Arbeitsplatz ausschließlich in hierarchischen Ebenen stattfinden. Natürlich begünstigen Hierarchien Missbrauch, aber er kann auch auf derselben oder einer ähnlichen Hierarchieebene passieren, weil es darum geht, eine andere Person kleinzuhalten oder zu degradieren. Somit kann Machtmissbrauch vor allem in kompetitiven Arbeitsfeldern ein Mittel sein, um die eigenen Interessen durchzusetzen.
Als Ausrede für eine Belästigung fallen häufig Sätze wie "Das wird man doch wohl noch sagen dürfen". Wie sollten Betroffene sich im Fall einer solchen Reaktion verhalten?
Es kommt stark darauf an, wer zurückgewiesen beziehungsweise in die Schranken gewiesen wird. Häufig reagieren Täterinnen und Täter auf Zurückweisung mit einer Art Mobbing im beruflichen Kontext. Bedeutet: Sie degradieren die Arbeit der betroffenen Person oder versuchen, sie auf andere Art und Weise aus dem Betrieb oder Projekt zu ekeln. Genau dieses Verhalten zeigt, dass es bei sexualisierter Belästigung nie um Liebe, sondern nur um Machtdemonstration geht.
Über die Gesprächspartnerin
- Franziska Saxler hat Psychologie studiert. Im Rahmen ihrer Doktorarbeit beschäftigt sie sich mit den Mechanismen der sexuellen Belästigung am Arbeitsplatz und betreibt interkulturelle Geschlechterforschung. 2022 rief sie gemeinsam mit anderen Wissenschaftlerinnen den Hashtag #metooscience ins Leben, um über Machtmissbrauch und sexualisierte Gewalt im Hochschulkontext aufzuklären.
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