Kein Job, kein Geld, keine Wohnung: Die Zahl der Obdachlosen in Deutschland ist in den vergangenen Jahren drastisch gestiegen. Seit 2014 hat sie sich mehr als verdoppelt. Geht die Entwicklung so weiter, werden bereits im kommenden Jahr laut einer Schätzung rund 1,2 Millionen Menschen in Deutschland wohnungslos sein.
Eine offizielle Zahl, wie viele Obdachlose in Deutschland leben, gibt es nicht. Laut der aktuellsten Schätzung der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e.V. hatten im Jahr 2016 bundesweit 860.000 Menschen keine Wohnung.
Die Zahl wird dabei untergliedert in Menschen, die entweder von Kommunen in Obdachlosenunterkünften untergebracht werden oder die in Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe unterkommen oder die versuchen, ohne Sozialdienste einen Unterschlupf zu finden.
"Zu letzterer Gruppe gehören vor allem die unter 25-Jährigen ohne Wohnung. Sie versuchen oft, bei Bekannten unterzukommen und schlafen mal hier und mal dort auf der Couch. Gleiches gilt für viele Frauen. Auch sie wollen selten in Obdachlosenunterkünfte gehen", erklärt Werena Rosenke, stellvertretende Geschäftsführerin der BAG Wohnungslosenhilfe.
Die "Spitze des Eisbergs", wie sie sagt, sind dann noch diejenigen, die ganz ohne jede Unterkunft auf der Straße leben. Das sind rund 52.000 Menschen in Deutschland.
Viele anerkannte Flüchtlinge ohne Wohnung
Unter den geschätzt 860.000 Menschen ohne eigene Wohnung befinden sich 440.000 anerkannte Flüchtlinge. Diese Gruppe stellt also mehr als die Hälfte aller obdachlosen Menschen in Deutschland.
Ähnlich wie andere Wohnungslose, werden sie entweder in Obdachlosenunterkünften oder als sogenannte "Fehlbeleger" in den Gemeinschaftsunterkünften untergebracht.
"Eigentlich sollen sie dort ausziehen und sich mit Wohnraum versorgen, aber sie bekommen oft keine Wohnung oder können sich diese nicht leisten. Ist das der Fall, dürfen sie übergangsweise in den Obdachlosen- oder Sammelunterkünften wohnen", so Rosenke.
Die starke Zuwanderung hat die Situation der Obdachlosigkeit hierzulande also verschärft - sie ist aber nicht die alleinige Ursache für die Wohnungsnot in Deutschland.
Zu wenig bezahlbarer Wohnraum als Hauptgrund
Wohnungsknappheit und fehlender bezahlbarer Wohnraum sind hier laut der BAG Wohnungslosenhilfe aktuell die größten Probleme in Deutschland. Der Bestand an Sozialwohnungen ist seit 1990 um rund 60 Prozent gesunken. Auch kleine Wohnungen fehlen in vielen Städten, obwohl großer Bedarf herrscht.
"Zu diesen ganzen Faktoren kommt dann leider auch die Stigmatisierung wohnungsloser Menschen. Wer einmal eine Wohnung verliert, wird es bei der großen Konkurrenz bei Besichtigungen sehr schwer haben, die Wohnung zu bekommen. Diese Menschen stehen ganz hinten an", erklärt Rosenke.
Dabei ist die Erfolgsaussicht, mit einer Wohnung wieder ein geregeltes Leben zu führen, laut der Expertin sehr groß. "In fast allen Fällen fassen die Menschen wieder Fuß. Viele wünschen sich zu Beginn noch eine Unterstützung von Sozialarbeitern, wenn es um den Abbau von Schulden, die Jobsuche und die Rückkehr in einen geregelten Alltag geht. Den meisten Menschen gelingt es nach und nach ganz unauffällig, wieder ein 'normaler Mieter' zu werden."
So wird Obdachlosen in Deutschland geholfen
Das Ordnungsrecht sieht vor, dass jedem unfreiwillig Obdachlosen eine Unterkunft zur Verfügung gestellt wird. Man hat damit aber nicht automatisch ein Recht auf eine Wohnung mit Mietvertrag, sondern einfach nur auf ein Dach über dem Kopf.
"Für eine Unterkunft gibt es in Deutschland keine einheitlichen Maßstäbe. In der Regel sind es Behausungen mit sehr niedrigen Standards. Es kann auch mal vorkommen, dass es kein fließendes warmes Wasser gibt", so Rosenke.
Dass obdachlosen Menschen noch am selben Tag von der Kommune eine Unterkunft zu vermitteln ist, ist keine urbane Legende, sondern Vorschrift. Denn durch die Obdachlosigkeit werden wichtige Individualrechte gefährdet, die im Grundrecht verankert sind. Dazu gehört das Recht auf Leben, auf Gesundheit, auf körperliche Unversehrtheit und natürlich die Menschenwürde.
Anstehen für einen Übernachtungsplatz
Die Warteschlangen vor Unterkünften, die man meist aus Filmen kennt, gibt es in Deutschland auch in der Realität.
"Das liegt daran, dass viele Notunterkünfte keine 24 Stunden geöffnet haben. Pünktlich zu den Öffnungszeiten stehen die Menschen also an, um reingelassen zu werden. Morgens müssen sie die Einrichtung wieder verlassen. Ohne Übernachtungsmöglichkeit sollte jedoch niemand weggeschickt werden. Es muss entweder ein anderer Schlafplatz vermittelt werden oder es gibt spezielle Notprogramme. Das heißt, dass dann zumindest ein Stuhl zur Verfügung gestellt wird, auf dem die Menschen in der Unterkunft im Sitzen übernachten können", so Rosenke.
Dass es Menschen gibt, die freiwillig auf der Straße leben, will die Expertin nicht so einfach stehen lassen.
"Es gibt Kommunen, die keine oder zu wenige Notunterkünfte haben. Dann gibt es welche, die Notunterkünfte in einem so miserablen Zustand haben, dass die Leute dort nicht hingehen. Dann gibt es Unterkünfte, die Menschen abweisen, die ihren Hund dabei haben. Weil die Tiere aber oft die einzigen Wesen sind, mit denen diese Menschen sozialen Kontakt haben, werden sie sie nicht hergeben. Oftmals gibt es auch keine Unterkünfte für Paare. Diese wollen sich aber nicht trennen und schlafen dann notgedrungen in einem Zelt oder unter einem Bretterverschlag. Oft stecken also viel größere Probleme dahinter", erklärt Rosenke.
Psychisch krank durch Wohnungslosigkeit
Es gibt jedoch auch Menschen, die weder in eine Notunterkunft gehen noch in einer normalen Wohnung leben wollen oder können – oft aus psychischen Gründen. Sie haben ihre Wohnung aufgrund von psychischen Erkrankungen verloren oder das Leben in Obdachlosigkeit hat ihnen so sehr zugesetzt, dass sie psychisch auffällig geworden sind.
"Das ist nur ein kleiner Prozentsatz aller Wohnungslosen. Selbst in Großstädten sind das nicht viele und diese Personen sind meist bekannt. Wenn es ein gutes Hilfesystem gibt, unterstützt man diese Menschen trotzdem. In Frankfurt gibt es zum Beispiel eine Liste der vital gefährdeten Personen, die niemanden an sich heranlassen und kaum kommunizieren können, bei denen aber man regelmäßig schaut, ob es ihnen gut geht und ob sie sicher leben können", erklärt Rosenke.
Für solche Menschen fordert der Verband, dass es sehr niedrigschwellige Hilfe und Lösungen gibt. Zum Beispiel einen Bauwagen oder ein Zelt, das den Obdachlosen so viel Schutz und Sicherheit wie nur möglich gibt.
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