Sie sind oft belastend, doch sie gehören zum Leben dazu: Sorgen. Und das ist auch gut so, findet Joshua Fletcher. Der britische Psychotherapeut spricht im Interview darüber, wann wir Sorgen beiseiteschieben sollten - und in welchen Fällen es gut ist, dass uns negative Themen auch mal länger beschäftigen.

Ein Interview

Sie sagen, dass Sorgen in gewissem Maße hilfreich sind, da sie uns dazu anregen, uns mit quälenden Gedanken auseinanderzusetzen und Lösungen zu finden. Gleichzeitig warnen Sie davor, in eine Endlosschleife zu geraten. Wie erkenne ich, ob ich "nur" besorgt bin oder ob mehr dahintersteckt?

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Joshua Fletcher: Dabei ist es hilfreich, sich Sorgen als eine natürliche, gesunde Reaktion vorzustellen. Wir alle machen uns Sorgen - über Dinge wie Arzttermine, erste Verabredungen, Fahrprüfungen oder Examen. Solche Sorgen gehören zum Menschsein und sie zeigen, dass wir uns Gedanken machen. Ein ausgewogenes Maß an Sorgen ist in Ordnung. Es kann uns helfen, uns auf bestimmte Situationen vorzubereiten und achtsam zu sein.

Aber …?

Wenn sie beginnen, den Tag zu diktieren, können sich Sorgen erdrückend anfühlen. Wenn ein Gedanke oder eine Sorge den größten Teil Ihrer Aufmerksamkeit in Anspruch nimmt, wenn sie sich wie eine ständige Bedrohung für Ihr Wohlbefinden oder Ihr Selbstwertgefühl anfühlt, hat die Sorge wahrscheinlich die Grenze zur Angst überschritten. Das kann dazu führen, dass man sich auf seine Probleme fixiert und Sorgen in Angst übergehen. Ein Schritt zurück ist dann schwierig.

"Sorgen sind in Maßen gesund."

Joshua Fletcher

Sorgen sind also völlig normal, sollten aber nicht überhandnehmen …

Sorgen sind in Maßen gesund. Es ist jedoch wichtig - wie bei jeder Emotion -, eine ausgewogene Perspektive zu wahren. Der Schlüssel liegt darin, ein Gleichgewicht zu finden, unsere Sorgen anzuerkennen und gleichzeitig Maßnahmen zu ergreifen, um für uns selbst zu sorgen und uns den Raum zu geben, uns von den Sorgen abzulenken, um unser Wohlbefinden zu erhalten.

Können wir überhaupt ein "sorgenfreies" Leben führen?

Ich glaube nicht, dass es das Ziel sein sollte, ein völlig sorgenfreies Leben zu führen, denn Sorgen sind ein Zeichen dafür, dass wir hinterfragen und mitdenken - und Sorgen sind ein wichtiger Teil des Menschseins. Ebenso würde ich nicht dazu ermutigen, ein angstfreies Leben anzustreben, da Angst an sich eine gesunde und natürliche Emotion ist. Stattdessen arbeite ich mit Menschen, die mit Ängsten zu kämpfen haben, daran. Das Ziel ist nicht, die Angst zu beseitigen, sondern mit ihr besser umgehen zu können.

Die meisten Menschen assoziieren Sorgen und Ängste mit negativen - meist unnötigen - Gedanken, die Stress verursachen. Sie scheinen allerdings der Meinung zu sein, dass sie auch einen positiven Nutzen haben?

Joshua Fletcher
Joshua Fletcher berät vor allem Angstpatienten. © Jon Shard

Sorgen haben durchaus einen positiven Nutzen. Sorgen und Ängste sind eng mit dem Teil unseres Gehirns verknüpft, das Bedrohungen erkennt - im Grunde genommen unser Überlebensmechanismus. Ohne ihn gäbe es uns wahrscheinlich nicht mehr, dieses System im Gehirn hat wahrscheinlich jeden von uns mindestens einmal gerettet. Sorgen als unnötig zu betrachten, ist eine überholte Sichtweise. Sorgen signalisieren, dass wir uns Gedanken machen, dass wir uns anstrengen und dass wir Situationen mit mehr Achtsamkeit angehen. Es bedeutet, dass wir das ganze Ausmaß einer Situation bedenken, anstatt uns blindlings darauf einzulassen. Ein gesundes Maß an Sorge ist in der Tat unerlässlich und ich würde behaupten, dass es ein Zeichen für emotionale Intelligenz ist.

Was passiert, wenn wir unsere Sorgen unterdrücken?

Eine solche gesunde Emotion als unnötig abzutun, spiegelt oft eine tiefere Angst wider, die über oberflächliche Sorgen hinausgeht. Wenn wir das Bedürfnis haben, die Teile von uns zu unterdrücken, die sich verletzlich oder bedroht fühlen, führt das auf lange Sicht wahrscheinlich zu schwerwiegenderen Problemen der psychischen Gesundheit. Nach meiner Erfahrung als Psychotherapeut führen Menschen, die offener mit ihren Sorgen und Schwächen umgehen, ein glücklicheres und zufriedeneres Leben. Sie verwenden keine Energie darauf, Gefühle zu unterdrücken, um einer gesellschaftlichen Norm zu entsprechen, die über Generationen hinweg geformt wurde - einer Norm, die nicht widerspiegelt, wer wir wirklich sind.

Wann sollten wir auf unsere Sorgen hören und wann sollten wir sie beiseiteschieben?

Es ist völlig in Ordnung, sich seine Sorgen anzuhören - man kann nicht verhindern, dass Gedanken auftauchen. Entscheidend ist, wie man auf sie reagiert. Die Handlungen nach einem beunruhigenden Gedanken bestimmen, wie viel Macht man ihm gibt.

Über den Gesprächspartner

  • Joshua Fletcher ist ein britischer Autor und Psychotherapeut. Er hat sich auf die Behandlung von Angst- und Panikstörungen spezialisiert. Fletcher ist Mitglied der British Association for Counselling and Psychotherapy. In seinem neuen Buch "Und wie fühlen Sie sich damit?" berichtet er von Therapiesitzungen und gibt konkrete Ratschläge zu psychischen Problemen wie Angstzuständen, Zwangsstörungen und Panikattacken.

Redaktioneller Hinweis

  • Das Interview wurde schriftlich und auf Englisch geführt.
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